Einkehr zum toedlichen Frieden
einer flüchtigen Berührung der Fingerspitzen
kommt, als ich Heins Rechte ergreife.
»Sie glauben wohl, dass ich meinen Vater umgebracht habe«, stellt er
fest.
»Das weiß ich nicht.«
»Sowie Ihren Bruder und Gudruns Vater?«
»Möglich ist alles.«
»Da war ich aber in Köln.«
»Stimmt nicht«, bluffe ich. »Ich habe Sie gestern gesehen. Als Sie
Linus beinahe totgefahren haben.«
»Wo soll das denn gewesen sein?«, fragt Hein und krault Linus hinter
dem umgeklappten Ohr.
»Na, als Sie mit einem Affenzahn direkt am Haus Ihrer Mutter
vorbeigebrettert sind. Im roten Cabrio.«
Hein schüttelt den Kopf. »Ich gestehe, dass ich gestern tatsächlich
in der Gegend war, schwöre aber, an allen Mordanschlägen unschuldig zu sein,
auch an dem auf Linus.«
»Ich habe Sie aber gesehen!«
»Nicht mich, sondern ein rotes Cabrio, und davon gibt es viele.
Meins meidet die Nähe zu meinem Elternhaus, wenn ich mich heimlich in der Eifel
aufhalte. Was ich gestern getan habe. Das können Sie gern dem Marcel erzählen,
aber bitte nicht meiner Mutter. Die würde ausflippen, wenn sie wüsste, dass
ich, ohne sie zu besuchen, hier war, und vor allem wo und weshalb. Aber ganz
bestimmt nicht, um Gudruns Vater in den Wolfgangsee zu schubsen.«
Erwartungsvoll blicke ich ihn an.
Er schüttelt den Kopf und erklärt: »Ich sage es Ihnen, wenn wir uns
besser kennen. Dazu wäre förderlich, wenn Sie mir das Du anbieten.«
Ich bin der Aufforderung kaum gefolgt, als sich in die ersten Klänge
von Always Look on The Bright Side of Life aus meiner
Hosentasche eine Marianne-Rosenberg-Melodie aus Heins Jackentasche mischt.
Jeder legt sein Handy ans Ohr.
»Alles in Ordnung«, sage ich zu Marcel Langer. »Ich komme nur Ihrem
Befehl nach und lasse Sie wissen, wo und mit wem ich unterwegs bin.«
Mit den Worten: »Nein, natürlich habe ich keine Angst!«, nehmen Hein
und ich von unserem jeweiligen Gesprächspartner Abschied. Die identische
Wortwahl zur selben Zeit trägt erheblich zur Entspannung der Lage bei.
Unwillkürlich müssen wir beide lachen.
»Braucht Ihre Mutter Sie jetzt nicht?«, frage ich, als sich Hein
anbietet, mich auf dem letzten selbstständig eingeschlagenen Weg seines Vaters
zu begleiten.
»Unser Hausarzt ist ein Fan der Pharmaindustrie«, erwidert er.
»Meine Mutter auch. Jetzt ist sie so zugedröhnt, dass sie bis zum Abend
schlafen wird. Und ich brauche frische Luft.«
Nein, von diesem Mann geht keine Bedrohung aus. Ich fühle mich
wieder sicher und bin sogar froh, den Weg nicht allein machen zu müssen. Mit
den Schrecken der deutschen Geschichte vor Augen können wir es vermeiden, über
die Schrecken der jüngsten Ereignisse zu sprechen.
Hein frischt meine historischen Kenntnisse auf. Er erzählt mir von
Hitlers Limesprogramm, dem sogenannten Westwall, einer Befestigungsanlage von
der Schweizer Grenze bis zum Niederrhein, zu der auch die 130 Kilometer lange
Höckerlinie gehörte. Gräben und umfangreiche Stacheldrahtverhaue waren ihr
einst vorgelagert. Damit sollten tatsächlich bis zu achtunddreißig Tonnen
schwere Panzer abgewehrt werden.
»Die Alliierten nannten diese Steine früher Drachenzähne«, sagt
Hein. »Und heute kommen immer wieder Amis her, für Teile des Westwalls zu
kaufen.« Er weist in den Wald, aus dem sich zwischen Fichten ein bizarr
geformtes Steinmassiv erhebt.
»Einer der unzähligen Bunker, die hier in der Gegend im Rahmen
dieses Siegfried-Programms errichtet wurden. Diesen Bunker hat man später
gesprengt«, erklärt er.
»Ist das der, in den damals Karl Christensens Frau Maria gestürzt
ist?«, frage ich betroffen.
Er zuckt mit den Schultern. »Könnte sein. Das war lange vor meiner
Geburt.«
Und kurz vor meiner, denke ich, und vielleicht sogar wegen meiner …
Ich schiebe diesen bösen Gedanken schnell fort und lehne Heins
Vorschlag ab, näher an die verschobenen überwucherten Betonmassive
heranzugehen. Man sollte aus dem Schicksal anderer lernen und das eigene nicht
herausfordern. Irgendwann werde ich diese Stätte allein erkunden und der
fremden Maria gedenken. Der Mutter meines totgeschlagenen Bruders.
»Rate mal«, sagt er, mein Unbehagen offensichtlich spürend, »wer
sich heute für den Erhalt dieser alten Kriegsanlagen einsetzt.«
»Neonazis?«, schlage ich das Nächstliegende vor.
Er schmunzelt.
»Ganz im Gegenteil. Die Grünen und diverse andere Umweltschützer.
Auf dem Beton der Höckersteine wohnen jetzt allerlei Moose und Flechten. Und in
den ollen Bunkern
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