Einkehr zum toedlichen Frieden
Krippenlandschaften Interesse
haben, führt er uns als Erstes zu einem Schaufenster, hinter dem lebensgroße
Puppen in einer Kneipenlandschaft sitzen. Balter wirft eine Münze in einen
Schlitz, und mit einem Mal werden die Puppen zu blechernen musikalischen
Klängen lebendig. Der Kneipier hinter dem Tresen gießt sich eine rote
Flüssigkeit ein, trinkt sie aus und gießt nach. Zwei Männer an einem Tisch
schütteln Würfelbecher, werfen die Würfel auf den Tisch und sammeln sie wieder
ein.
»Sehr lebensecht«, sage ich ehrlich beeindruckt.
»Stimmt, wenn man davon absieht, dass in dieser Gegend mehr gekartet
als gewürfelt wird«, meint Hein.
»Hauptsächlich Coujon«, stimmt Balter nickend zu. Er ist inzwischen
in die Szenerie eingestiegen, um uns die Mechanik zu zeigen.
»Nicht in Deutschland«, erwidert Hein. »Bei uns spielt man kein
Coujon. Da ist Tuppen angesagt. Und damit kann man erheblich mehr Geld
verzocken als mit eurem braven belgischen Coujon. Früher hat da so mancher Haus
und Hof verspielt.«
»Genau. Vor Jahrzehnten soll der Gemeinderat von Baasem beim Tuppen
sogar einen Teil seines Gemeindewaldes an den Gemeinderat von Kronenburg
verloren haben«, fügt Balter kopfschüttelnd hinzu und fordert uns auf, die
Mechanik seiner Figuren genauer zu betrachten. »Alles mechanisch, nix mit
Computer-Technik!«, sagt er stolz und lässt die Puppen noch einmal tanzen.
Danach führt er uns in einen von Tageslicht erfüllten Raum mit
modern anmutenden afrikanischen Steinskulpturen.
»Das ist Shona-Kunst«, erklärt Balter. »Speziell für unsere Krippana
angefertigt. Die Shona sind der größte Volksstamm Simbabwes. Frau Klein …?«
Ich höre nicht hin. Denn durch das Fenster blicke ich genau auf die
Außenkrippe, auf jene Stelle, an der ich meinen Bruder vor drei Tagen tot
aufgefunden habe. Ich sehe wieder genau vor mir, wie er dort lag. Aber aus
dieser anderen Perspektive fällt mir etwas Bedenkliches auf. Etwas, das ich
zuvor weder bedacht noch gesehen habe und das mich sehr beunruhigt.
»Bitte, Frau Klein, fassen Sie den Stein doch mal an«, ruft Michael
Balter.
Ich gehorche und trete näher an eine hohe Frauengestalt heran, die
mich entfernt an ein Picasso-Werk erinnert. Als ich mit den Fingern zunächst
noch etwas geistesabwesend über die kalte Fläche streiche, fällt mir ein, dass
ich heute bereits einen anderen Stein berührt habe, einen zur Vernichtung
errichteten Drachenzahn. Der mich schaudern gemacht hat.
»Was spüren Sie jetzt?«, fragt Michael Balter gespannt. Meine
Antwort überrascht mich selbst.
»Leben«, sage ich erfreut, »dieser Stein ist irgendwie lebendig.«
»Genau!«, Michael Balter strahlt. »Die Mythologie der Shona
unterscheidet nicht zwischen lebendiger und lebloser Materie, zwischen
organischer und anorganischer. Sie glauben, dass man auch das Wesen und die
Seele von Steinen ergründen kann. Für die Shona ist die ganze Schöpfung
beseelt.«
Hein ist bereits nach draußen gegangen und steht vor der Lebendkrippe.
»Wo genau hat dein Bruder gelegen?«, fragt er leise, als ich mich
neben ihn an den schlichten Holzzaun stelle.
Stumm deute ich mit dem Finger auf die Stelle neben Maria und Josef.
»Warum hinter diesem Zaun?«, fragt er. »Was wollte er dort?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Vielleicht sich Marias Gewand genauer betrachten«, antworte ich.
»Er schrieb doch an einer Arbeit über den Faltenwurf von Marien-Gewändern im
Wandel der Zeiten und Kulturen.«
»Wohl kaum im Wandel des Windes«, bemerkt Hein. »Hier zieht’s
nämlich ganz ordentlich. Da kriegste keinen vernünftigen Faltenwurf hin.«
»Der Mörder hat mit solcher Wucht zugeschlagen, dass Gerd über
diesen niedrigen Zaun gestürzt ist«, schlage ich vor.
»Und der Bergkristall lag auch im Stallbereich?«
Ich nicke.
»Fast hinter ihm. Das finde ich auch rätselhaft. Was soll ein
Bergkristall in einer Krippe?«
»Spurensicherung und Rechtsmedizin werden bestimmt bald die
richtigen Antworten liefern«, meint Hein.
Die richtigen. Oh Gott. Ich kann es kaum erwarten.
Balter lässt uns durch dasselbe Gatter hinaus, durch das ich zum
ersten Mal den Tatort betreten habe.
»Geht es dir gut?«, fragt Hein. »Du bist ganz blass geworden.«
»Sitzt mir alles noch in den Knochen«, murmele ich, schüttele die
finsteren Gedanken ab und frage: »Wie weit ist es denn zu deinem
geheimnisvollen Ort?«
»Nur ein kurzer Weg«, beruhigt er mich.
Die Kürze des Weges steht im Gegensatz zu seiner Höhe.
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