Einkehr zum toedlichen Frieden
vielleicht betet dort grad
jemand für den Gerd, meinen Vater oder den Alf den Rosenkranz. Oder jemand hat
danach wieder das Licht angelassen. Komm, Katja, wir fahren rüber und schauen
nach.«
»Fahren?«, fragte ich ungläubig.
»Sonst müssten wir doch nur wieder zum Auto herlaufen«, erwiderte
sie.
Um auf den winzigen Parkplatz der Kirche schräg gegenüber meinem
Haus zu gelangen, galt es, den gesamten Merteshof zu umrunden, eine weitere
Kurve zu nehmen und eine schmale Gasse einzuschlagen. In dieser Zeit hätten wir
gemütlich zur Kapelle schlendern, das Licht ausknipsen und wieder zurückkehren
können.
Wann hatte ich zum letzten Mal eine Kirche betreten? Vor etwa vier
Jahren, fiel mir ein. Ein säkularisiertes Gebäude aus dem hohen Mittelalter,
das für eine Gothic-Modenschau hergerichtet worden war und äußerst stimmige
Bilder mit sehr mageren und extrem bleichen Models geliefert hatte, denen
kleine Rasierklingen und riesige Kreuze vom Halse baumelten.
Ein Beleuchter hatte aus religiösen Gründen seine Teilnahme an
dieser Show abgesagt. Ich kannte solche Skrupel nicht. Meine Mutter hatte mir
ihren Gott nie vorgestellt, sondern ihn mitsamt ihrer Vergangenheit in der
Eifel zurückgelassen. Ich war nicht einmal getauft worden. Es hatte mich nie
gestört, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören oder an Weihnachten nicht in
die Kirche zu gehen. Mein metaphysisches Bedürfnis hielt sich in Grenzen. Wenn
sich meine Schulkameraden während des Religionsunterrichts über die Bibel
beugten, hatte ich eine Freistunde. In der ich meistens meiner Mutter den
Feudel ausdrückte. Irgendwann hatte sie auf eine meiner Fragen geantwortet,
dass sie zwar streng katholisch erzogen worden war, mir aber das damit untrennbar verbundene konstant schlechte
Gewissen ersparen wollte.
»Aber in der Not hilft der Liebe Gott einem doch!«, hatte das
neunjährige Mädchen sein Wissen aus einem Buch abgerufen, das ihm der
Deutschlehrer geschenkt hatte. Der übrigens auch protestantischen
Religionsunterricht erteilt und die kleine dicke Katja immer todtraurig
angesehen hatte.
»Es heißt doch: Hilf dir selbst, dann hilft dir
Gott «, hatte meine Mutter geantwortet und hinzugesetzt: »Wozu brauchst
du einen Gott, wenn du dir doch selbst helfen musst? Du bist keinem Schicksal
ausgeliefert, Katja, sondern der Schmied deines eigenen. Kein Gott kann dir
wichtige Entscheidungen abnehmen, und kein Pfarrer kann dich mit irgendwelchen
Ave-Marias von schwerer Sünde befreien.«
Wir betraten die Kapelle durch ein dunkelgrünes Portal in dem
gänzlich mit Schiefer bedeckten Kirchturm.
»Hier ist es«, wies mich Gudrun an. Sie griff mit den Fingern in
eines der Weihwasserbecken neben dem Eingang, bekreuzigte sich, öffnete eine
Holztür und machte zum Altar hin einen Knicks.
Mir gefiel die Kirche auf Anhieb. Sie war stilvoll und schlicht, mit
überraschend hübschen bunten Fenstern, Holzschnitten an der weiß getünchten
Wand und einfachem Gestühl. Kathedralen besichtige ich nur ungern, da ich mich
von riesigen Kreuzen mit überlebensgroßen blutbefleckten Körpern inmitten von
allerlei Gold, Geschnörkel und Geschmeide unbehaglich berührt fühle. So etwas
gab es hier nicht. Worte wie Demut, Wehmut, Würde, Gnade gingen mir durch den
Kopf, als ich mich dem zierlichen Kruzifix näherte, das eine einfache
Messingkiste auf dem Altar krönte. Vor die kleine Heiligenfigur, die mit Zirkel
und Dreieck in der Hand rechts vom Altar stand, hatte jemand einen Strauß
frischer roter Rosen in eine Vase zwischen zwei dicken weißen Kerzen gestellt.
Liebevoll, dachte ich, hier atmet alles Innigkeit. Dass Gläubige in einer
solchen Umgebung Frieden fanden, konnte ich völlig neidlos anerkennen.
Gudrun sah mich erwartungsvoll an, aber ich ignorierte ihre stumme
Aufforderung zu einem Ritual, das mir gänzlich fremd war. Einer Erklärung wurde
ich enthoben, da wir plötzlich entdeckten, dass wir nicht allein waren.
Ein kleines Mädchen mit langen braunen Haaren kniete links vor dem
Altar. Gudrun huschte auf das Kind zu.
»Nicole«, flüsterte sie mit der Betonung auf der ersten Silbe, »Was
machst du denn hier?«
Das vielleicht achtjährige Kind wandte sich mit tränenüberströmtem
Gesicht zu uns um.
»Ich bete«, sagte es laut. »Ich bete für mein Volk.«
Gerührt, dass dieses Mädchen einer offensichtlichen Märchenwelt so
viel Wirklichkeit abringen konnte, ging ich neben dem zierlichen Geschöpf in
die Hocke und fragte: »Du bist also eine
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