Einkehr zum toedlichen Frieden
Geheimnisse und sprach mit mir nie über seine Pläne. Oder
über seine Arbeit, die war für ihn ganz wichtig, da durfte ich nie stören oder
was fragen. Er sagte, er sei Privatgelehrter, was immer das ist. Er hat mich da
nicht drin haben wollen, und wurde böse, wenn ich sagte, ich will mich auch
weiterentwickeln. Da hat er gelacht und gesagt, wie er darunter leidet,
niemanden hier zu haben, mit dem er auf Augenhöhe reden kann. Das war nicht
schön, weil ich mir dann immer so dumm vorkam. Manchmal haben wir dann
gestritten.«
Ihre Augen wirken schon wieder verschleiert. Ganz klar, der
arrogante Schnösel Gerd ist der schwache Punkt dieser ansonsten so starken
Frau.
»Obwohl ihr euch so gut verstanden habt?«, setze ich mit leiser
Ironie nach.
»Ja«, sagt sie, »das haben wir. Bis mein Vater dem ein Ende
bereitete.«
»Und das habt ihr euch gefallen lassen?«, frage ich fassungslos.
Gudrun zuckt mit den Schultern. »Er sagte, wir seien zu nah
verwandt.«
»Und wenn schon!«, fahre ich auf. »Cousin und Cousine. Ihr wart doch
nicht mehr in dem Alter, wo man Kinder kriegt!«
»Das wäre schon noch möglich gewesen«, flüstert Gudrun mit Tränen in
den Augen. Ich starre sie erschrocken an. Oje, da habe ich mich aber in einem
Fettnäpfchen versenkt. War sie schwanger und gezwungen, das Kind abtreiben zu
lassen? Will ich gar nicht so genau wissen. Ich bin in meinem Berufsleben zu
vielen Frauen begegnet, die nie ein Kind wollten, aber mit Mitte vierzig
tränenreich in fremde Kinderwagen schauen.
Beherzt fahre ich fort: »Nach allem, was du mir von Gerd erzählt
hast, waren ihm Konventionen doch piepegal. Er machte, was ihm passte!«
»Dachte ich auch«, versetzt Gudrun. Nach ihrer Offenbarung hat sie
sich seltsam schnell wieder gefangen. »Aber nach einem Gespräch mit meinem
Vater hat er sich voll von mir zurückgezogen. Ohne Begründung. Im letzten Jahr
haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt.« Sie hebt die Arme und schreit
in die Küche hinein: »Und jetzt kann ich keinen mehr fragen, weshalb.«
Ihre verzweifelte Ohnmacht angesichts der unerledigten Vergangenheit
gleicht meiner. Damit fühle ich mich Gudrun sehr verbunden, denn meine
Frageliste an die vielen Toten wird auch immer länger. Ständig wächst der Groll
auf diejenigen, die uns so ratlos zurückgelassen haben. Die Toten, so heißt es,
existieren in Herzen und Gedanken der Lebenden weiter, aber Gudruns und meine
Toten werden dort erst dann in Frieden ruhen können, wenn uns die noch Lebenden
endlich schlüssige Antworten liefern. Das Schweigen meiner Mutter lastet schwer
auf mir. Das Schweigen meines Bruders hat Gudrun sichtlich fast zerrissen.
Eine Bemerkung Fines kommt mir in den Sinn. Ich frage: »Hatte dein
Vater vielleicht Angst, dass du mit Gerd zusammenziehst und ihn in einem
Altersheim entsorgst?«
»Hätte ich doch nie getan!«, fährt Gudrun auf. »Ihn abschieben,
meine ich. Das mit dem Zusammenziehen hatten wir letztes Jahr geplant, aber
natürlich mit meinem Vater. Weil wir hier ja sowieso bald raus müssen. Wegen
der Zwangsversteigerung. Keine Ahnung, wo ich jetzt unterkommen werde.«
Den letzten Satz hat sie nur gemurmelt.
Es ist der falsche Moment, darüber zu spekulieren, wo denn das ganze
Geld geblieben ist, das ihren Vater Werner Arndt einst zum Großgrundbesitzer
der Kehr gemacht hat. Es ist auch der falsche Moment, ihr damit Mut zuzusprechen,
dass ich mich noch vor knapp einer Woche in einer sehr ähnlichen Lage befunden
habe. Schließlich hat sich diese trotz oder wegen meiner seltsamen Erbschaften
nicht wirklich verbessert. Wie Gudrun stehe auch ich vor den Trümmern einer
Vergangenheit, aus der nichts in die Zukunft hinüberzuretten ist. Wir werden
beide ganz von vorn anfangen müssen. Und das in einem Alter, in dem sich andere
schon voller Behagen auf den Ruhestand vorbereiten.
»Wir sollten nach der trächtigen Kuh sehen, bevor es wieder regnet«,
wechselt Gudrun das Thema und ruft mir damit die gestrige
Weltuntergangsstimmung in Erinnerung.
Was gestern geschah
»Setzen Sie sich in Ihr Auto und drücken Sie die Knöpfe
runter«, empfahl mir Marcel Langer, nachdem ich ihm am Handy die Nachricht vom
aufgebrochenen Türschloss entgegengeschleudert hatte. So, als wäre es seine
Schuld. »Wir kommen sofort.«
Mit einem kläglich jaulenden Linus schaffte ich es gerade in meine
Karre, als der Sturm losbrach. Windböen zerrten an meinem Wagen, als wollten
sie ihn davontragen. Ein kaputter weißer Plastiktisch
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