Einkehr zum toedlichen Frieden
Prinzessin? Von welchem Land denn? Und
hast du auch einen Prinzen?«
Das Mädchen sah mich voller Mitleid an und antwortete dann empört:
»Ich bin doch keine Prinzessin. Ich bin die Nicole.«
»Für welches Volk betest du dann?«, hakte ich ratlos nach.
»Für mein Ameisenvolk«, gab das Kind zurück. »Ich habe so eine
Angst, dass es bei diesem Regen ertrinkt. Glaubst du …«, sie ergriff Gudrun bei
der Hand, »dass Gott mich erhört? Auch wenn ich kein Geld für eine Kerze habe?«
Sie nickte zu dem Metalltisch vor sich hin, wo eine Opferkerze flackerte.
»Daran soll es nicht scheitern«, erwiderte ich beschämt, zog ein
Eurostück aus meiner Hosentasche und gab es ihr.
»Das ist für vier Kerzen«, sagte das Mädchen.
»Nur zu«, erwiderte ich.
Das Kind warf die Münze in den Schlitz eines Metallbehälters unter
dem Tisch und entzündete am Docht der brennenden Kerze nacheinander die
anderen. Eine für das Ameisenvolk, dachte ich und je eine für die drei Toten
der letzten Tage.
Zum ersten Mal seit Wochen umfing mich so etwas wie Frieden. Ich
begann zu ahnen, welchen Trost der Glaube schenken konnte.
Gudrun unterbrach unser andächtiges Schweigen: »Weiß deine Mutter,
dass du hier bist, Nicole?«
Die schüttelte den Kopf. »Die ist bei Meyers zum Karten.
Länderspiel.«
»Länderspiel?«, fragte ich Gudrun.
»Die Frauen auf der Kehr treffen sich einmal wöchentlich zum
Karten«, erklärte Gudrun. »Belgien gegen Rheinland-Pfalz und NRW. Aber darüber sollten wir
hier nicht reden.«
Richtig, ein Teufelsspiel, dachte ich amüsiert, eine Versuchung, die
im Hause des Herrn nichts zu suchen hat.
Als wir dem Ausgang zustrebten, warf ich einen Blick auf den
Beichtstuhl rechts von der Tür. Wie oft meine Mutter hier wohl ihre Sünden
aufgezählt hatte? Dass sie die Schule geschwänzt, unreine Gedanken gehabt oder
ihren Lehrern Widerworte gegeben hatte? Dass sie ihre Eltern im Stich gelassen
hatte? Dass sie sich einem verheirateten Mann hingegeben hatte? Dass sie dessen
Frau in ein Betonloch gestoßen hatte … Hatte sie das? Und hätte sie es
gebeichtet? Kein Pfarrer kann dich mit irgendwelchen
Ave-Marias von schwerer Sünde befreien. Der Anblick des geschlossenen
violetten Samtvorhangs jagte mir einen Schauer über den Rücken und ließ meinen
Atem stocken. Ich war froh, als wir wieder ins Freie traten, und sog die sauber
gewaschene Luft tief in meine Lungen ein.
»Es regnet nicht mehr!«, rief Nicole aufgeregt, zerrte an unseren
Händen und flehte uns an: »Bitte, kommt mit zu meinem Volk! Für zu sehen, ob es
noch lebt!«
»Wo wohnt es denn?«, fragte ich.
Nicole deutete in Richtung des Geländes, durch das ich zwei Tage
zuvor mit Linus gestrichen war. Wo ich den toten Werner Arndt im Wolfgangsee
gefunden hatte.
»Wo genau?«, fragte Gudrun. Nicole sagte es ihr, als wir ins Auto
stiegen.
»Da ist ja Linus!«, rief sie begeistert, sprang zu dem Hund auf den
Rücksitz, umarmte ihn und ließ sich von ihm das Gesicht abschlecken. »Der arme
Linus! Wer sorgt jetzt für ihn? Wo der Gerd doch tot ist.«
»Ich«, erwiderte ich trocken.
»Nicole, das ist die Katja, die Schwester von dem Gerd«, stellte
mich Gudrun vor, als ich den Wagen startete.
»Aber du bist nicht von hier. Wie kannst du da die Schwester von dem
Gerd sein?«, fragte das Kind überrascht.
»Genau das würde ich auch gern wissen«, murmelte ich und sagte laut:
»Ich wohne mit Linus jetzt in seinem Haus.«
»Nach rechts«, wies mir Gudrun vor dem Zollhaus den Weg.
»Aber er kennt dich doch gar nicht«, sagte das Kind vorwurfsvoll.
»Ich hab ihn ganz doll lieb. Schenkst du ihn mir?«
»Nicole!«, schimpfte Gudrun. »Benimm dich! Da unten nach links,
Katja.«
Bei einer kleinen Häuseransammlung bog ich einen Schotterweg ein,
den rechts ein Wald aus Weihnachtsbäumen säumte.
Ich fuhr durch ein Schlagloch, knallte mit dem Kopf gegen das
Autodach und hörte, wie der Auspuff aufschlug. Hier hätte der Geländewagen
meines einstigen Berliner Liebhabers eine sinnvollere Aufgabe gehabt als auf
den Ampel-Kreuzungen der Großstadt. Es ging leicht bergauf. Sturzbäche, die
Schotterstücke, kleine Äste und Sand mit sich führten, flossen uns entgegen.
»Der Berg ist weg!«, jammerte Nicole.
Ich hielt den Wagen neben einem hübschen winzigen Holzhäuschen an.
Nicole stürzte aus dem Auto und hockte sich am Wegesrand hin.
»Alles weg! Mein Volk ist tot!«
Gudrun erkundigte sich nach dem genauen Standort des Ameisenhaufens.
Nicole deutete
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