Einkehr zum toedlichen Frieden
ihn. Oder auch nicht. Wenn er so bemüht war, sich
derart aktuelle Informationen über mich zu verschaffen, musste ihm der
Allerwerteste ganz schön auf Grundeis gehen. Aber warum? Hatte er nach meinem
Anruf mit meinem Besuch gerechnet und gar eine Detektei auf mich angesetzt?
Höchst beunruhigend, das Ganze.
»… und weil deren Mutter Anna Klein jüngst den Löffel, Pardon, das
Putztuch hat abgeben müssen, macht sich die trauernde Tochter in die Eifel auf,
um dort die einzigen Rechte einzufordern, die sie noch zu haben glaubt. Aber da
hat sie sich gewaltig geschnitten.«
Er lehnte sich triumphierend zurück. Rechte? Ich hatte mich nur auf
die Suche nach meinen Wurzeln begeben wollen, mehr nicht. Aber wenn mir dieser
in meinem Leben herumschnüffelnde Unsympath unterstellte, von möglichen Rechten
Gebrauch machen zu wollen, dann sollte ich das tatsächlich auch erwägen. Unser
gemeinsamer Vater – so dachte ich damals, als uns noch keine DNA-Analyse die familiäre
Verbindung abgesprochen hatte – wusste von meiner Existenz und hatte mir
möglicherweise etwas vermacht. Wenn dem so war, wollte ich es zumindest wissen.
Aber dafür mussten wir ohne trennende Autoscheibe und Wachhund miteinander
reden.
»Ich warte«, sagte er, »was wissen Sie über mich? Haben Sie Ihre
Hausaufgaben auch so gründlich gemacht wie ich?«
»Darüber«, sagte ich, »sollten wir in einem anderen Ton, zu einer
anderen Zeit und vor allem an einem anderen Ort sprechen.« Ich deutete auf den
Hund.
Er ließ sich darauf ein, schnauzte mich an, nach links den Berg
hinunterzufahren und im Hotel Balter in Losheim einzuchecken. Im Gebäude
daneben, also in der Krippana, habe er abends zu tun. Er werde die Pforte zum
Hintereingang des Geländes öffnen, und dort sollte ich ihn gegen zwanzig Uhr
aufsuchen.
»Mit den Unterlagen!«
Ich folgte seinen Anweisungen. Kurz vor zwanzig Uhr nahm ich die
Jutetasche aus dem Auto, blickte angeekelt auf die Fettflecke, zog die Briefe
heraus und machte mich mit ihnen auf den Weg.
Hätte ich sie doch bloß in der unappetitlichen Tasche
gelassen! Die hätte er mir leichter entreißen können als das Bündel Briefe, das
wie mit meiner Hand, die es verkrampft hielt, verwachsen zu sein schien! Dann
wäre es vor den Puppenaugen von Josef, Maria und den mampfenden Viechern nicht
zu dem Handgemenge gekommen, bei dem ich mein ganzes Gewicht in die Waagschale
und Gerd somit über das niedrige Geländer stieß, das die Heilige Familie und
ihren Anhang von uns trennte.
Es ging ganz schnell. Er verlor die Balance und fiel hintenüber in
die Lebendkrippe hinein.
Froh, Zeit gewonnen und die Briefe nicht verloren zu
haben, war ich davongeeilt, ohne mich um sein Wohlergehen zu kümmern. Aber was
sollte einem ausgewachsenen Mann schon zustoßen, der in eine Jesuskrippe voller
Stroh plumpst?
Als ich das Ergebnis am nächsten Morgen sah, glaubte ich erst, Gerd
wäre so unglücklich auf den Bergkristall gestürzt, dass sich ihm dessen scharfe
Kanten in den Schädel gebohrt hatten. Tatsächlich hielt ich mich für eine
Mörderin.
Ein ungutes Gefühl hatte mich bewogen, in aller Frühe an den Ort
unseres Streits zurückzukehren. Ich hatte nämlich erwartet, dass mich Gerd im
Hotel aufsuchen würde, und mich gewundert, als er sich nicht blicken ließ. Dort
hätte ich in der Gaststube mit ihm geredet, wo er kein solches Theater hätte
aufführen können wie zuvor in der Krippana.
»Was genau hat er Ihnen denn gesagt?«, fragte mich Marcel
Langer, als ich bei dem Geständnis in meinem Haus – immer noch ein merkwürdiger
Gedanke: mein Haus – an dieser Stelle der Geschichte angekommen war.
»Er hat mich auf das Übelste beschimpft«, wich ich aus, »und als ich
ihm die Unterlagen nicht ausliefern wollte, wurde er
handgreiflich. Das ist doch Notwehr, oder?«, fragte ich. »Und den Bergkristall
habe ich wirklich nicht gesehen, als Gerd über die Brüstung stürzte.«
»Ich weiß. Er war gar nicht da.«
»Wer?«
»Der Bergkristall. Der ist erst später dort deponiert worden. Von
dem Mörder.«
»Ich habe meinen Bruder wirklich nicht umgebracht?«
»Haben Sie mit einer Art Faustkeil zugeschlagen?«
»Natürlich nicht! Ich hatte doch die Briefe in der Hand!«
»Dann waren Sie es auch nicht. Aber glimpflich ist er bei dem Sturz
auch nicht davongekommen.«
»Die Milchkanne«, sagte ich stumpf. Das schwere metallene Objekt,
das als Zierde in der Krippe stand, war mir erst aufgefallen, als ich die
Krippana mit Hein besucht
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