Einmal auf der Welt. Und dann so
jedem Schritt mit ihren Krücken, ihren Armen nachhelfen musste, saß sie immer auf einem Barhocker am Tresen, als ob ihr gar nichts fehlte - und man sah so ja auch nichts. Man hatte sie da hinaufgesetzt. Dieser Platz gab ihr wohl das Gefühl, dabei zu sein oder im Urlaub, den sie nicht kannte, so wenig wie den Nicht-Urlaub.
Sie lebte ja, zu allem anderen auch noch, von der »Fürsorge«, sie war ja, zu allem, auch noch eine Sozialhilfeempfängerin. Hier trafen wir uns, oft schon nachmittags, wenn ich von der Arbeit kam. Ich sah, wie sie zuhörte, zuprostete, ich war ihre Nummer 3.
Der grüne Behindertenausweis an der Frontscheibe, die Plakette ihres Leidens, ein Privileg, das sie weidlich ausnutzte, von dem sie lebte, das ihr Leben füllte, das ihr Leben verschaffte. Ihren Wagen sah ich an den unmöglichsten Stellen, oftmals sogar am Hauptportal zum Münster. Sie war nämlich so fromm wie ich. Niemand, nicht einmal die Kirche, traute sich, ein Behindertenfahrzeug abzuschleppen. Das Auto vor dem Hauptportal, ein Privileg, das nicht einmal der Erzbischof hatte: Das war eine der wenigen Freuden in ihrem Leben.
Sie hatte ihren Stolz, lehnte den Rollstuhl ab, den sie in der Hierarchie des Leidens mehrere Stufen unterhalb ansiedelte.
Obwohl alle, mit meiner Ausnahme vielleicht (und der Leute vom Friedhof), der ich einer ordentlichen Arbeit nachging, die wir damals im Badischen Hof verkehrten, Sozialhilfeempfänger waren (nur Gritt, gut fünfzehn Jahre älter als ich, sprach noch von der Fürsorge), prosteten wir uns zu und gaben Runden aus, eine nach der anderen, einer nach dem anderen.
Da war auch noch ein Geldautomat in einer der schönsten Ecken dieses schönsten Lokals der Stadt, wie ich dankbar erinnere. Früher einmal eine Baracke, zum Abriss auf Widerruf bestimmt, eine Baracke, die Struktur, das Herz war ja immer noch aus Holz.
Es kamen keine Studenten, schon daher fühlte ich mich wohl, wohler als sonst wo in der Stadt; bis in den Salatgarten hinein war ja alles voller Studenten. Hier nicht. Der Umstand, dass es sich um eine Universitätsstadt mit einem gewissen Ruf handelte, hatte mich ja, nachdem ich das Amtszimmer des Generalvikars verlassen hatte, eher abgeschreckt. Ich wollte nicht unter Studenten leben. Ich wollte nicht in meiner Vergangenheit leben.
Gritt lernte ich hier kennen. Die Kumpels vom Friedhof schleppte ich hierher. Kein Wunder, dass sie bleiben wollten. Spätabends, bei fortschreitender Sentimentalität, versicherten wir uns manches Mal, dass dies unsere (eigentliche) Heimat sei. Die ist nun abgerissen. Bei meinem letzten Besuch in dieser Stadt, in meinem Leben von einst herumschweifend wie auf der Suche nach der verlorenen Zeit sah ich, dass ich nichts mehr sah: Eine Planierraupe stand auf einem kleinen Trümmerberg wie auf einem Grabhügel, und darunter lagen unsere Erinnerungen begraben. Es war an einem Sonntag. Der Bagger hatte frei.
Dann gab es noch die Nummer 2 im Leben von Gritt, die stand hinter der Theke, Charlie, der wahrscheinlich Karl-Heinz hieß, der Wirt, auch er Sozialhilfeempfänger, der Gritt jeden Nachmittag vom Auto zu ihrem Platz am Tresen schleppte - und zurück. Es wurde auch gesungen, wir sangen unsere Lieder durch: Heißer Sand, Wir wollen niemals auseinandergehn, La Paloma. Und wenn wir ganz übermütig waren, kam noch Marmor, Stein und Eisen bricht dazu. Gritt sang mit, sprach ja nicht viel, kaum mehr als unser Viehhändler, der Heidegger. Sie sagte eigentlich nur zu Charlie: Du bist meine Nummer 2! Und zu mir: Und du bist meine Nummer 3! Bestellte ein Bier »Und ihm auch eins!«, und außerdem lächelte sie. Sie hatte zum Glück nie einen Unfall, auch auf ihren Nachhausefahrten: nie. Aber eines Tages las ich in der Zeitung, dass eine Frau Gritt K. vergiftet worden war; und zwar von ihrem Mann, der sich, noch bevor er verhaftet werden konnte, aufgehängt hatte und Gritts Nummer 1 gewesen war.
Von den anderen rede ich doch lieber nicht - von den Schrunden, den Oberflächenwunden, vom ersten Hinfallen mit dem Fahrrad, vom Verschwinden meiner Kindergartenfreundin, von der zerrissenen Hose, dem aufgeschlagenen Knie, von einst gar keine Rede.
Gritt soll genügen, Stichworte.
Es gab Menschen, mit denen hatte ich für ein Leben gerechnet. Einige starben an einer Krankheit, die bald Aids hieß, und nicht SIDA wie in Frankreich, weil das Amerikanische nun die Hoheit über uns und unsere Krankheiten hatte. Es war wie im Krieg. Einige kehrten und kehren von der Front
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