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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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würde mit einem Mühlstein in der Tiefe des Meeres versenkt!, dachte ich. Es war kalt in Paris, dachte ich, ohne die Reise im Geringsten zu bedauern.
    Ich fuhr mit dem Schnellzug durch die Gegend zwischen BarleDuc und Metz, Toul und Verdun. Ein kaltes Frühjahr. Aber ich liebte das Licht im Februar, weil es am hellsten war, ganz ohne verdunkelndes Grün, am leichtesten, lichtesten, sagen die Lichtkenner.
    Metz-Toul-Verdun - In dieser Gegend musste doch mein mit eigenen Augen nie im Leben gesehener Großvater gefallen sein, im Trommelfeuer von Ancy-le-Duc-en-Lorrain, einem Ort, den er womöglich nicht einmal aussprechen konnte.
    Ich schaute also, aufmerksamer, zum Fenster hinaus, aber ich konnte nichts mehr von ihm entdecken. Sein Leichnam wurde ja noch ausfindig gemacht und dann auf Kosten der Angehörigen auf unseren Heimatfriedhof verfrachtet. Von da wusste ich alles, der Steinmetz hatte sich mit den französischen Namen Mühe gegeben, der Ort, den mein Großvater wahrscheinlich nicht aussprechen konnte, stand fehlerfrei auf dem Grabstein. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Rädelsführer meiner Geschichte zu verfluchen, alle Adjutanten, Kompanieführer, Markgrafen und Kaiser, die meinen Namen ausgelöscht hatten, ohne ihn wahrgenommen zu haben, die weiterlebten, während er in dieser Gegend, sagen wir: liegen blieb, in einer Gegend, die er bis dahin nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte, gewiss nicht richtig hätte aussprechen können:
    Ich bin bei Ancy-le-Duc-en-Lorrain gefallen ...
    Gefallen. - Wer sich wohl das Wort »gefallen« ausgedacht hat?, dachte ich. Wer sich dafür so ein Wort ausgedacht hat?
    Und ich fuhr, von meiner eigenen Nachdenklichkeit gestärkt, mit neuer Kraft weiter. So fuhr ich durch die kommenden Rapsfelder, die Schlachtfelder von Lothringen, von einst. Ich sagte mir dabei: Was mich nicht umbringt, macht mich stark, um mir auch etwas zu sagen. So zitierte ich das grausige Sprichwort ins Ungefähre, in blühender Nachdenklichkeit, allein für mich; und von neuem nahm ich am Leben teil, immer wieder.
    Unser gemeinsames Dach über dem Kopf, unser Himmel über dem Himmelreich, und nun: explore your world!
    Es war kalt zu Hause, so kalt wie in Paris.
    Unterwegs hatte ich einen Brief an meinen Großvater entworfen, der dann, wie das meiste, liegen blieb.
    Lieber Großvater!
    Wir liegen weit zurück. Unser Heimatfriedhof liegt auf einer kleinen Anhöhe, auf einem namenlosen kleinen Berg. Man hält noch einmal inne und schaut, bevor es die letzten Schritte hinaufgeht, »heimwärts ist für mich bergauf«. Wer von uns beiden hat es, von hier aus eingeschätzt, weiter gebracht?
    Lieber Großvater!
    Es ist gar nichts geblieben von Dir. Ich reise auf Deinen Schlachtfeldern herum und fahre in vier Stunden über Deine Schlachtfelder nach Paris, einer Stadt, die Du von Radolfzell aus im markgräflichen Viehwagen erobern solltest und wohl nie gesehen hast. Vale! Die Birnbäume, die Du gesetzt hast, sind groß geworden, stehen noch und erinnern uns an Dich, aber sonst lebt niemand mehr, der Dich lebend gesehen hätte. Und wenn ich jetzt noch mit dem Schmerz Deiner Mutter, meiner Urgroßmutter komme? Lächerlich? Sie wird doch sehr geweint haben um Dich?
    Eine Urgroßmutter, noch ein Mensch, den ich nicht kannte, nie gesehen habe, von dem her ich bin.
    Wir haben doch alle einmal unter demselben Dach gelebt! -Unser Schmerz geht mit uns unter. In unserer Gegend bleibt kein Wort von unserem Schmerz. Meine Urgroßmutter hat nicht aufgeschrieben, was war, als der Postbote mit dem Brief kam. Wer kam? Oder war es der Bürgermeister, auch ein Urgroßvater von mir, von einer ganz anderen Seite, die beiden konnten ja nicht wissen, dass sie sich in mir noch einmal treffen würden. (Wir haben ja alle vier Urgroßväter.)
    So sollte aller Schmerz in mir münden.
    Kaum nach diesem Krieg saßen alle auf einer Hochzeit zusammen. In der Zeitung stand, dass Du schon vor Jahren gefallen bist und dass Dein Bruder nun auf diesen alten Hof geheiratet habe, Deine Witwe ... »Möge es dem neuen Besitzer und seiner jugendlichen Frau auf dem schönen ertragreichen Hofe immer gut ergehen! Dieses Bauerngut ist sehr alt« ... - Ich kenne Euch alle nicht, und doch: Ihr steht auf meiner Verlustliste. Ihr seid auf Taubenfüßen verschwunden oder nicht: Wart Ihr überhaupt da? Möge es dem neuen Besitzer und seiner jugendlichen Frau ...
    Das war aber genauso ein Brief an mich.
    Wie die Geschichte weiterging? Einen Teil davon kann

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