Einmal auf der Welt. Und dann so
man auf dem Gefallenen-Ehren-Denk-ich-weiß-nicht-Mal, das auf unserem Friedhof nach dem letzten Krieg errichtet wurde, nachlesen.
Beim Überfliegen der Namen stieß ich immer wieder auf meinen eigenen, und mein erstes richtiges Buch war ein Poesiealbum. Beim Überfliegen der Namen stieß ich, schon beim Durchblättern, immer wieder auf Namen, und der dazugehörende Mensch fehlte nun, das war schon eine Liste aus Vermissten und Vermisstesten, die meinen alten Namen in Kinderschrift hingeschrieben hatten, und dazu Wörter wie »Deine« und »Dein«.
Der Einband war aus Leder und immer noch grün, wie damals, als ich dieses Ding zum Geburtstag erhielt. Ein Poesiealbum, grün, zum zehnten Geburtstag, ein Mädchengeschenk. Meine Älteren fügten sich meinen kleinen, von Herzen kommenden Wünschen. Was dachten sie sich dabei? Ich als sogenannter Stammhalter, der Stammhalter hatte sich ein Poesiealbum gewünscht.
Als so etwas war ich wirklich erhofft und in die Welt gesetzt worden, wenn ich die Turbulenzen wegen der Schwackenreuter Liliputaner abziehe. Schließlich - sagten wir uns - saßen »wir« seit 1609 in diesem Haus, oder genauer noch: an dieser Stelle, war doch das Vorhaus wegen der Schlamperei einer Vormutter 1773 abgebrannt, hatte doch unser Strohdach, das fast bis zum Boden reichte, Feuer gefangen, von der Küche her, die Küchenmagd hatte Öl verschüttet, beim Küchle-Backen, ich weiß noch ...
Zwei Jahre danach stand das Haus schon wieder, und diesmal war das Strohdach noch größer, und diesmal mit den Namen über dem Scheunentor, wohl für immer, vorsorglich. Wir waren so töricht und glaubten, es müsse immer weitergehen mit uns.
Der Stammhalter hatte sich also ein Poesiealbum gewünscht, wohl auch aus einem Verewigungsdrang heraus. Dahinein sollten ihm seine Freundinnen und Freunde, seine Menschen, die er sich ja nicht ausgesucht hatte, etwas schreiben, zur Erinnerung. Gedichte, damals wartete ich auf irgendetwas aus dem ewigen Vorrat der Poesie, aber es kamen nur Abziehbildchen mit Rosen und Engelchen undefinierbaren Geschlechts und Verse, an die ich schon damals nicht glaubte.
Angelica schrieb:
»Zwei Täubchen
Zwei Täubchen die sich küssen
die nichts von Liebe wissen
die lieben sich so sehr
aber dich lieber A. lieb ich noch mehr!«
Christa schrieb:
»Immer niedlich, immer heiter immer lieblich und so weiter stets natürlich aber klug nun das dacht ich war genug!«
Das gefiel mir überhaupt nicht. Ich wollte die Seite sogar herausreißen. Doch das wäre in unserer Posiealbum-Welt, in der man immer wieder zusammenkam, um sich die Eintragungen zu zeigen, so wie sich die Erwachsenen die Kühe, Briefmarken oder Kunstwerke zeigen, ein Verbrechen gewesen. Jahrelang überschlug ich Christas Seite ganz missmutig. Später entdeckte ich, dass ihr Vers von Goethe war. Der einzige Dichter in meinem Poesiealbum und mit diesem Beispiel! Ich muss sagen, dass durch diese Entdeckung das Ganze im Nachhinein noch schlimmer wurde.
Aber ich will dieses grünliche Dokument meiner Vergänglichkeit aufbewahren, so lange, wie diese dauert.
Die Namen, die ich darin las, waren von Menschen, die fast alle verschwunden sind. Ich lese: Deine Großmutter, Dein Großvater, Deine Großmutter, Dein-Deine-Dein-Deine-Dein-Deine-Dein-Deine-Dein-Deine-Dein:
Zwar lebten die meisten wohl noch. Ich aber muss sie für dieses Leben zu den Verlorenen zählen, sie hiermit als vermisst melden, sie aufgeben: alle, die »für immer« und »auf ewig« und »Dein« in mein kleines Quadrat geschrieben haben, ihr Engelchen dazuklebten, ihr Papier-Vergissmeinnicht.
Eine damals Zehnjährige schrieb mir:
»Wenn du einst nach vielen Jahren diesen Album nimmst zur Hand denk daran wie froh wir waren auf dem gleinen Schülerbank
Deine Emma (das Datum kann ich nicht wissen. Das Kätzlein hat mir auf den Kalender gesch.)«
Wie hellsichtig! Was für ein Vierzeiler! Meine letzten Dichterinnen der Romantik. Und nun: explore your world!
Vom Verschwinden. Kleines Denkmal für die Lateinlehrerin
Die Gegend, die viele Namen hatte, nur keinen richtigen, hieß, von Karlsruhe aus gedacht, auch Badisch-Sibirien. Was wir gar nicht verstehen konnten, denn wir fanden es trotz allem schön hier. Diese blauen Bänder, die sich gegen Abend hin mit dem Schwarz des Himmels vermählten. So, dass ich hätte ein Gedicht schreiben mögen auf die Schönheit meiner ersten Welt. Sie konnte nichts dafür.
In diese Zeit hinein
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