Einmal auf der Welt. Und dann so
sitzen sie mit ihren belegten Broten auf dem nächstbesten Sarg, mein Friedhofsgärtner sitzt auch schon da: O nütz der Jugend schöne Stunden, einmal entschlüpft, einmal entschwunden, zurück kommt keine Jugend mehr! Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein; wenn ich aber jetzt in einen schönen Biergarten gehen wollte, ich wüsste nicht, an welchem Tisch ich mich dazusetzen sollte, dürfte, allein. »Man gilt in dieser Welt nicht als vollzählig allein!«, sagt Lucy immer. Dabei wollen wir doch gar keinen Lebensgefährten oder sonst ein fernes, hohes Tier. Wir wollen doch nur nicht allein unser Bier trinken, versichert mir mein Zeitungsausträger, mit dem ich gelegentlich ein Bier trinke.
Wie es überhaupt so weit kommen konnte?
Das wäre doch der Sommer, den ich liebte.
Vieles bot die Stadt, in der ich nun schon wieder gar nicht so richtig lebte, also auch nicht, kein Vergleich mit Rom, wie ich nun, mit den Jahren, leider zu spät, herausfand. Ich bot ja auch nicht viel; und was da im Verlauf von Jahren geschah, ließe sich auf einer Seite sagen - oder eben überhaupt nicht. Ich hatte keine andere Entschuldigung anzubieten als diese: dass es auch sonst noch Menschen gab, bei denen es fast genauso war wie bei mir.
Man sagte, die Gegend gehöre schon zum Süden. Vielleicht hatte es mich auch deswegen, aus dem Süden kommend, hierher verschlagen. Vielleicht auch noch, weil in der Stadt ein Erzbischof residierte: alle meine bisherigen Städte waren Metropoliten-Städte (d.h. Erzbischof-Städte). Da konnte ich von Fall zu Fall ein Pontifikalamt mitfeiern. Irgendwohin musste ich schließlich gehen, solange ich lebte.
Der Hauptgrund dürften die Freunde gewesen sein, die ich, als Gegengift zu meiner Einsamkeit, hier ortete. Die Freunde, die nun einmal schon hier waren; ihnen bin ich, der sich zuletzt als Nomade erweist, nachgezogen, denn »Freundschaft ist die Krone der Welt!«, sagte Lucy immer. (Später entdeckte ich, dass sie diesen Satz bei Marcel Jouhandeau geklaut hat.) Ich wollte nämlich immer noch nicht gelten lassen, dass die Einsamkeit beinahe das Einzige wäre, von dem ich »mein« sagen konnte.
Ich hatte so viel geträumt, doch dann war es nur jene mittelgroße Stadt zwischen einem mittelgroßen Fluss und einem mittelgroßen Gebirge, in dem ich meine nächsten Jahre verbrachte. Durch abwechselnden Genuss von Rotwein und Pornofilmen, durch regelmäßiges Wichsen und Scheinschwangerschaften sediert und vom Leben abgehalten, war mir das Leben in dieser Gegend, der nördlichsten Bucht der Mediterranée, wie sie glaubten, manchmal zu viel, und ich war seit Rom immer wieder dafür, Schluss zu machen. Doch »du kannst nicht gegen die Todesstrafe sein und dann Menschen in Romanen zum Tode verurteilen«, sagt Walser. Das nahm ich mir zu Herzen.
Die Geschichte ging also weiter.
Es wäre schwierig, wenn nicht unmöglich, im fortgeschrittenen Alter, wie einst, noch einmal ganz von vorne anzufangen, noch Freunde, ja irgendjemanden zu finden, wenn es ihn nicht schon gäbe, dachte ich mir.
Die Freunde an sich waren ein Novum in meinem Leben. Zu Hause oder in Schwackenreute oder gar Meßkirch gab es so etwas ja nicht. Lucy hat recht: Meßkirch hat niemals eine Kultur der Freundschaft entwickelt. Ja ganz im Gegenteil, schon das Wort hatte, in Meßkirch in den Mund genommen, etwas Zweideutiges, wenn nicht gar Eindeutiges, Unappetitliches. Die einzige Spielart, mit der man sich ab einem bestimmten Alter eine zweifelhafte Anerkennung verschaffen konnte, war der Hausfreund. Über ihn hatte ja auch Heidegger schon in der Meßkircher Viehhalle gesprochen: Hebel - der Hausfreund. Aber eine richtige Freundschaft (i.e.: in aeternum), mit wem auch immer, gab es in Meßkirch nicht.
Wir mussten wie in Vorzeiten »mein Kamerad« sagen, und jedes Leben mündete vor Ort notwendigerweise in der trostlosen Ehe. Der Rest war Wartezeit, vorher und nachher.
Das Leben wurde von der Familie bestimmt, von Mann und Frau, einer Verbindung also, die kaum einmal zusammenpasste, das hatte Lucy richtig bemerkt. »Mann und Frau, das geht nicht zusammen. Freundschaft ist aber möglich«, sagte sie.
So will ich noch, wenn auch nur kurz, von meinen Freunden erzählen, die ich in dieser Stadt gewonnen und verloren habe, ob sie nun noch leben oder nicht.
Im Stadium einer fortschreitenden Räude angelangt, kannte ich Gritt allein aus unserem Bierlokal. Obwohl sie auf beiden Seiten körperbehindert war, vorne und hinten, links und rechts, und
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