Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
Vom Netzwerk:
Campingstuhl. Dann strengte sich der Alte noch etwas mehr an, und seine Bewegungen mit dem Krückstock waren vielleicht etwas eleganter. Mancher kannte sich noch vom Ersten Weltkrieg. Jetzt freuten sie sich über uns. Zuber fiel vom Barren. Tocholepsy kam gar nicht erst hinauf, ohne dass es von irgendjemandem bemerkt worden wäre.
    Der alte Direktor warf bei seinen Ansprachen oftmals das Wort Trommelfeuer in den Raum.
    Im Publikum war von Umnachtung die Rede.
    Meine Schule war etwas ganz Besonderes: eine Synthese aus Trommelfeuer, Bautzen, Umnachtung und zurückgehaltenen Tränen. Unsere Ministerpräsidenten, die in der Schule herumhingen, hießen Kiesinger und Filbinger. Es war, alles, vorne hinten wie höher.
    Ein Leben hier kam also, selbst vom kleinen Freiburg her betrachtet, einer Verbannung gleich. Erst um 1970 trudelten die ersten an 1968 geschulten Lehrer ein, durchweg Söhne von Nazis, und wären am liebsten gleich wieder geflohen.
    Der Lehrstoff (den es wohl gab?) stammte wohl fast komplett aus Büchern, die vor '45 geschrieben worden waren. Wörter wie widernatürlich, gesund, ungesund, krank, tüchtig sowie das ganze sportlich-militärische Vokabular herrschten sowie das dazugehörige Herrgott-, Heimat- und Familienvokabular, nur das Wort »Führer« und etwa das Wort »entartet« oder das Wort »Mädel« durften damals nicht mehr (jetzt wieder) vorkommen.
    In meinen Lesebüchern fand ich als Gedichte fast nur Balladen, und alle langweilten mich. Ich wusste schon, dass dies nicht alles sein konnte, so wie nach dem ersten Durchblättern der Wäscheseiten des Neckermann-Katalogs. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg muss eine ausgesprochene Balladenzeit gewesen sein, aufgrund dieses Unterrichts hatte ich lange geglaubt (wenn auch nicht für möglich gehalten), dass sich in der Ballade die Dichtung erschöpfte, ja dass Dichtung nichts anderes sei als eine Folge winterabendlanger Balladen.
    Auch Romane mussten wir lesen. Hinzu kamen die Weihnachtsgeschichten.
    Weltliteratur wurde uns auch geboten, wenn sie von hier war: Abraham a Sancta Clara, Heidegger, Gottfried von Zimmern (Verfasser der weltberühmten Zimmern'schen Chronik, die im Meßkircher Schloss geschrieben wurde, da, wo wir sie jetzt lasen).
    Von Goethe, von dem das Wort »Weltliteratur« doch stammt, habe ich über den trostlosen Werther hinaus nie etwas gehört. Die 68er brachten dann Brecht: Die Maßnahme. Aber dafür war es schon zu spät. Allerdings auch das erste Gedicht: Erinnerung an die Marie A., von dem ich lebte, eine Zeit lang. Gegen Ende der Schulzeit kamen neue Lesebücher. Da waren nun, Anfang der Siebziger, auch noch ein paar Neue abgedruckt. Auch ein Enzensbergergedicht, also wieder nichts.
    Zu Hause war ich von alldem verschont geblieben. Niemals habe ich ein nationalsozialistisches Wort oder ein Enzensbergergedicht gehört, und nicht nur, weil wir so wenig sprachen oder lasen.
    Und ich erinnerte mich daran, dass ich von zwei Parteimitgliedern in die Welt befördert wurde, von einer alten Hebamme und einem alten Reichshygienerat, die sich von Rottenmünster her kannten und keine zehn Jahre vor mir ihre Fahnen zu Putzlappen verarbeitet, das Brennbare verbrannt und die Parteinadeln und den Rest in die Donau geworfen haben. Was sonst noch war, ging ja keinen etwas an.
    So sind es für mich immer wieder Erinnerungen, Kinder, 120, 130,140,150 cm große Menschenkinder, die noch wuchsen und dabei Sonnwendfeiern und Katastrophen tage, »Flamme empor!« und Friedrich von Schiller verabreicht bekamen und wenn sie »Nibelungen« sagten, zur Strafe auf zehntausend zählen mussten.
    Einmal kam die Miegel zu Besuch angefahren. Das ist der Höhepunkt eurer Schulzeit! (wenn nicht eures Lebens), hieß es. Aus dem Westfälischen. Ich weiß noch, sie hatte einen Zopf, und der war geflochten. Sie trug um alles herum einen Zopf. Sie war uralt und unvergesslich, etwas Graues.
    Einige weinten, als sie Agnes Miegel leibhaft erblickten. Wir waren von unserer Bio-Lehrerin vor ihrem Besuch in das Martyrium dieses Lebens, das alles verloren hatte, eingewiesen worden. »Das ist die Summe der deutschen Existenz!«, sagte sie.
    Zur Feierstunde war die Schule im Musiksaal angetreten. Huldigungsadressen, das Grußwort von Kiesinger und Balladen, die ausgewählte Schüler mit nordischen Vornamen (Uwe, Jürgen, Kai) aufsagen durften, wurden vorgetragen. Die Miegel war schon sehr alt und lauschte ihren Dichtungen, die gar nicht in unsere Landschaft passten. Keine

Weitere Kostenlose Bücher