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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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sogenannten Katastrophentag wurde in unserer Schule der Brand des Hauses, der Absturz eines Jagdflugzeuges in uns hinein, die Entdeckung einer Bombe aus dem letzten Krieg mitten unter uns und überhaupt das Unausdenkliche in unserem Leben geübt. Das war der Höhepunkt, wenn schon nicht im Leben, so doch im Schuljahr unserer Biologielehrerin. Sie rannte von Zimmer zu Zimmer, die Einsatzleiterin, sie schrie: »Raus! Antreten!« Wir wussten, es war Katastrophentag, ohne dass wir die Art der Katastrophe schon gekannt hätten. »Antreten« - das war ohnehin das Lieblingswort im Haus, das heißt bei unseren noch aus dem Tausendjährigen Reich stammenden Vorbildern.
    Das Lieblingswort meiner Freunde hingegen war seit dem vierzehnten Lebensjahr »ficken«, ein richtiges Wort, das Macht über uns ausübte, das Gegenstück zu »Antreten!«, eine Gegenwelt, die uns am Leben hielt.
    Die Biologie- und Turnlehrerin stellte eine große Tradition her: Sie überbrückte die Geschichte des Tausendjährigen Reiches vom Höhepunkt bis zum Untergang und zu uns herab. Sie war seit 1943 Vollakademikerin, und wir repräsentierten den Untergang. Dazu kamen die schlechten schulischen Leistungen in dieser Klasse, die sie auf die Polen zurückführte, das heißt auf die Schüler mit den polnischen Namen, die Flüchtlingskinder, die den Unterricht zu sich hinabzogen.
    Eines Tages kam der Landrat Freiherr von Gleichenstein, dessen Territorium nun fast so groß war wie das Land seiner Vorfahren, angefahren und überreichte unserer Biologielehrerin das Bundesverdienstkreuz, eines der ersten. Die Sonnwendfeiern fanden auf dem Sauacker Richtung Buffenhofen statt, genauso wie kaum zehn, zwanzig Jahre zuvor, selber Ort, selbe Zeit ...
    Wir standen auf dem Saufeld hinter Conradin Kreutzers Geburtshaus. »Wo bleiben die Idioten aus Tuttlingen schon wieder!«, zischte sie vor sich hin, doch dann hob sich ihre Stimme, und sie verlas Kiesingers Grußwort. Wir standen in Gruppen oder Blocks in allen vier Himmelsrichtungen um den noch nicht entzündeten Holzstoß herum. Die Polen ganz hinten, ungeachtet ihrer Kleinheit oder Größe. Der Erste hatte schon wieder in die Hose gemacht, noch bevor »Flamme empor!« gesungen war. »Und so was will Förster werden!« Mit einer Ohrfeige verabschiedete sie Hubertus von der Sonnwendfeier und verstieß ihn Richtung Obstgarten, wie der Name für die Meßkircher Flüchtlingssiedlung lautete.
    Da kam der Bus aus Tuttlingen angefahren. Er stellte sich neben dem befreundeten Banner aus Saulgau auf, neben dem Sack mit den Sägespänen, für die Pahlke, der Hausmeister, zuständig war. Pahlke - das klang schon deutscher, aber auch noch nicht ganz richtig. »Flammen zündet! Herzen brennt!«, schrie die Biologielehrerin in die Johannisnacht hinein. Es war gegen zehn und dunkel, denn in den sechziger Jahren gab es keine Sommerzeit, und sie gab das Zeichen für »Flamme empor!«. Einer von uns musste noch ein Thing-Gedicht von Josefa Berens-Totenohl vortragen, das schon 1943 an dieser Stelle zum Vortrag gekommen war. Die Berens-Totenohl war nämlich eine Kameradin aus dem NS-Akademikerinnenbund gewesen und blieb es.
    Unsere Welt war voller Flüchtlinge. Sie war nicht mehr heil. Auch an diesem heiligsten Abend der Heimat (laut Biologielehrerin) standen Flüchtlinge um uns herum, die uns, unsere Heimat in Frage stellten.
    Alle Sonnwendfeiern meines Lebens klangen mit einem Kanon aus, mit dem Nachhauseweg, mit der Nacht.
    Ich hätte nun bei dieser Erinnerung »Herr Meier kam geflogen, auf einem Fass Benzin«, unseren Narrenmarsch, singen wollen, doch über diese Zeile kam ich nicht hinaus.
    Ach, die Gegend hieß anderswo Badisch-Sibirien. Niemand wollte kommen, nicht einmal als Direktor.
    1963 feierte der Interimsdirektor seinen neunzigsten Geburtstag. Immer noch hatten wir ihn gelegentlich als Vertretung im Turnen.
    Er gab seine Kommandos von seinem Stuhl aus, brüllte »Antreten!« und zeichnete mit seinem Krückstock die Bahn, die wir im Kreis laufen sollten. Wir verstanden seine reduzierte Sprache, er konnte keinen Einzigen von uns mit Namen nennen, aber wenn er gegen die Geräte zeigte, gegen das Trampolin, gegen die Barren, versuchten wir uns doch an diesen Geräten. Seine Angaben »Hoch!«, »Rein!«, »Runter!«, »Rüber!« blieben schlicht unverständlich, und wenn dann die Frechsten von uns auch noch »ficken« dazwischenriefen, verstand er gewiss nichts. Aber ab und zu saß ein Gast neben ihm in der Turnhalle auf einem

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