Einmal auf der Welt. Und dann so
immer noch nicht, wir konnten uns erzählen, wen alles es erwischt hatte, wir konnten Namen austauschen, wem es passiert war, und wann, und wie es passiert war. Es waren Menschen, zwar nicht unser Jahrgang, aber doch solche, die wir kannten, etwa unsere Lateinlehrerin, die auch nicht eines natürlichen Todes gestorben war, wie nah sie diesem auch gewesen sein mochte, und die die Einladung zu unserem Treffen ja noch erhalten haben musste, umsonst. Das Klassentreffen stellte sich als Wiedersehen der abgebrühtesten Insassen eines Gefangenenlagers heraus. Man tauschte seine durch die verreckten Gesichter wieder auftauchenden Erinnerungen mit den Wärtern von einst, den armen Lehrern, die mit solchen Schülern, und dann noch mit mir, gestraff waren, dachte ich nun, sprachlos, ja, wir waren wieder einmal sprachlos und flüchteten uns in Äußerlichkeiten wie immer schon: Meine angebliche Schönheitsoperation wurde zu einem Hauptthema des Tages.
Als hätte ich an keinem Ort der Welt etwas dazugelernt, auch in Rom nicht, steigerte ich mich nun so langsam in eine, jene alte, irrsinnig komische Verzweiflungsvirtuosität hinein, die an meinem Leben geschult war, steigerte mich zum Schauspieler, zu Sein oder Nicht-Sein. Auch dieses Mal fiel kaum einer von ihnen darauf herein, selbst Diethelm lachte nur, und immer mehr, wie damals schon:
Aus Verzweiflung darüber begann ich, allen zu sagen, was ich von Luther halte. Ein Verbrecher sei er, der größte, den Deutschland vor Hitler gesehen habe, erklärte ich bei Kaffee und Kuchen, bei Wein und Verlorenheit. Ich entwickelte meine Anklage aus der Freiheit eines Christenmenschen, die vom selben Verfasser stammte wie Wider die diebischen und räuberischen Rotten der Bauern und auch das späte Hauptwerk: Von den Juden und ihren Lügen von 1545!, fügte ich meiner ungläubigen oder ärgerlichen, bürgerlichen Zuhörerschaft, meiner Mehrheit gegenüber hinzu:
Da könnt ihr alles lesen. Denn zwischendurch war es mir sehr ernst, und ich identifizierte mich mit meiner Rolle und war ein Schauspieler, bei dem Leben und Lebenspielen zusammenfielen.
Auch noch den Namen Calvin warf ich in den Raum, um den Abscheu zu steigern: Calvin ließ Kinder verbrennen, wenn sie an den falschen Stellen lachten, »nur zur Information!«, fügte ich hinzu, als ob ich informieren wollte. Dabei wollte ich nur ihren Widerspruch. Niemand lachte mehr, denn es hatte sich wohl herumgesprochen, dass ich in Rom komplett gescheitert war, dass es nichts geworden war mit dem Purpur, auf den die Verwandtschaft gehofft hatte, nachdem sie einmal mitbekommen hatte, dass ich in Rom studierte und von Kardinälen zu Tisch gebeten wurde. Aber Papst werden konnte ich trotz allem immer noch, ich war nach wie vor einer der Kandidaten, das konnte mir niemand nehmen, denn dazu bedurfte es nur dieser zwei Dinge: männlich und katholisch zu sein. Beides hatte ich niemals vor aufzugeben. Das wussten sie freilich nicht, so gut kannten sie sich im Kirchenrecht nicht aus, aber dass es um das Haus mit dem Schmerz als Grundriss nun definitiv zu Ende ging, das wussten sie aus dem Südkurier. Dort hatten sie - so weit war es schon wieder - alle die Ankündigung jener zum Glück geplatzten Zwangsversteigerung lesen können, der Termin stand wieder einmal fest. Und ich war ja auch deswegen nach Hause gefahren, um alles noch einmal zu sehen, war zurückgekehrt wie der Mörder dahin, wo es gewesen war. Schaffte es aber dann doch nicht.
Ich war mittlerweile auch schon wieder bei der Internationalität der katholischen Kirche angekommen (im Grunde großzügig, ungemein tolerant, phantasievoll, alle Rassen, Klassen, Geschlechter, Einkommensstufen etc.) und erklärte, Rom sei das einzig Katholische, also: Internationale, das es auf dieser Welt gebe, die immer mehr in Nationalismen und Eigennutz versinke. Den Relativsatz hatte ich dem L'Osservatore Romano entnommen.
Vielleicht redete ich auch nur so, weil ich alles vertuschen wollte und glaubte, sie wüssten es nicht, auch nicht, welcher Tätigkeit ich nachging, als wäre es etwas Unehrenhaftes wie die gewerbsmäßige Prostitution.
Ich redete, als müsste ich ein Ehrenwort abgeben oder als stünde ich kurz vor der Weihe.
Schaut euch einmal die Protestanten dieser Welt näher an -oder lieber nicht! Nach Klassen und Einkommensstufen geteilt! Nur Weiße, Nordeuropäer etc., also im Grunde rassistisch: völkisch im Dritten Reich, apartheidlich in Südafrika, Staatskirchentum ... bemerkte ich, auf
Weitere Kostenlose Bücher