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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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einzige ihrer Balladen spielte hier. Jede Ballade wurde zweimal vorgetragen. Die Miegel blinzelte jeweils wissend - oder gar wissender, man sah ihr ihren Verlust an. An dieser und jener Stelle schien sie zu verzagen. Da aber alles aus dem Mund von Kindern (oder was dafür galt) kam, schöpfte sie auch wieder Hoffnung.
    Auf die (warum eigentlich sogenannte?) Reifeprüfung folgte jene erste Reise meines Lebens.
    Bis dahin war ich eigentlich nur nach Schwackenreute, Meßkirch oder in den Stall gekommen, wo ich eigentlich am liebsten war. Interrail (nach Capri!) hatte ich mir in den Kopf gesetzt, und auf dem Weg dahin noch nach Rom! Ich hatte einen Lichtbildervortrag im Nebenzimmer des Löwen gesehen, eines Winters; von da Capri, die sogenannte Blaue Grotte und so weiter, die Reise unternahm ich mit Anton aus Kreenheinstetten, B-Klasse wie ich.
    Nachdem fünf von uns durch die Reifeprüfung gefallen waren, wollten wir unserer Schule nicht auch noch durch unsere Anwesenheit bei einer Feierstunde in der Stadt- und Viehhalle (heute: Heideggerhalle) huldigen. Wir waren nicht die Einzigen, die ferngeblieben waren. Der Direktor machte sich noch ein letztes Mal von der Rednertribüne herunter über uns lustig, wie man mir sagte. Er verkündete, dass wir die schlechtesten Ergebnisse von ganz Baden-Württemberg erzielt hätten. Er hat gesagt, dass er sich eine Zukunft mit diesen Noten nicht ausdenken könne - dass er beim besten Willen nicht sagen könne, was aus uns, mit ein, zwei Ausnahmen vielleicht, noch werden könne. Die Heideggerhalle muss entsetzlich leer gewesen sein.
    Ich kannte diese Halle von den Viehversteigerungen und von den Heideggerfeiern her. Da wurde das braune Meßkircher Höhenfleckvieh im Kreis herumgeführt und versteigert oder auch nur prämiert. Den Direktor denke ich mir an der Stelle, wo sonst der Auktionator Graf Douglas seine Angaben und Zahlen herunterschrie. Dieser Direktor verspottete uns, indem er sich unsere Zukunft (darunter ja auch meine) ausmalte, indem er sich diese angeblich nicht auszumalen wagte.
    Als mein Name genannt wurde, verlas er, ich sei in Portugal, »abwesend!«, und machte auch noch eine Andeutung über meine Zukunft, die ich nie erfahren habe, so schrecklich muss diese Andeutung gewesen sein. Mit einer unwilligen Handbewegung habe er mein Zeugnis zur Seite geschoben: »Glänzt durch Abwesenheit!«, habe er dabei durch die Viehhalle gerufen. Ein letztes Mal fehlte ich unentschuldigt. Es war der 24. Mai, und ich fuhr an diesem Tag mit Anton, der ja auch unentschuldigt fehlte, von Sorrent aus nach Capri. Es war nur ein Tagesausflug. Nach der Blauen Grotte wollten wir noch mit der Zahnradbahn in die Stadt hinauf, aber es blieb keine Zeit mehr. Unser Boot ging schon wieder um zwei nach Sorrent zurück. Dort übernachteten wir in der Jugendherberge. Wie wir dahin gekommen waren, weiß ich nicht mehr. Und dann war noch, aber nicht wegen Anton, bitte schön!, dieses Jucken gewesen, das mir bald eine Schamröte und einen Angstschweiß ins Gesicht trieb.
     
    Meinen Reisebegleiter habe ich seither auch nicht mehr gesehen. Ohne dass ich wüsste, warum, ist er aus meinem Leben verschwunden. Gewiss gibt es einen praktischen Grund dafür, dass wir, die wir neun Jahre am Stück, sage ich, zusammen, sage ich, in diese Schule gegangen waren, gewiss gibt es einen praktischen Grund, dass wir uns nicht mehr jeden Tag sahen. Aber dass wir uns vollkommen aus den Augen verloren haben, kann doch nicht daran liegen, dass mich seine Frau abgelehnt hat, dass sie mich einfach nicht leiden konnte. Sie duldete überhaupt keine Freundschaft neben der Ehe und Familie. Aber daran kann der Verlauf unserer Geschichte doch nicht liegen. Wir haben uns doch die ganze Zeit so gut verstanden, auch auf Capri - und es fehlte nicht viel, und wir hätten uns eine Frau gesucht und wären zur Krönung unserer Freundschaft alle drei ins Bett gegangen, so gut verstanden wir uns.
    Wir hätten es ruhig tun sollen. Denn dann wäre mir wohl auch die Zeit zwischen Diagnose und Diagnose der Fehldiagnose erspart geblieben. Dann hätte ich aber auch nicht jene himmlisch irdischen Tage oder Nächte gehabt, und eine von ihnen musste es gewesen sein.
    Unsere Freundschaft wurde also nicht durch noch so eine Dreiergeschichte gekrönt, sondern wenig später durch Ilse zerstört.
    Eines Abends - bei einem jener Abende, die die katholischen Hochschulgemeinden zu Beginn eines jeden Semesters zum Kennenlernen veranstalten - ging Ilse

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