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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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dachte ich. Keine Friedhofszeiten. Doch bald waren die letzten alten Gräber abgeräumt, da sie nicht mehr in die Zeit passten, wie die Administrationsfurie verlauten ließ.
    Unseren Kirchturm mit den Sonntags-, Abend-, Hochzeit-und Totenglocken habe ich wohl auch bis zuletzt, das heißt: solange ich da war, überschätzt. Immer wieder wurden aus seinem Schattenfeld weg unsere Kranken in die Landesnervenheilanstalt gefahren. Die einen sagten, er sei hundert, die anderen, er sei dreißig Meter hoch. Die Schätzungen gingen auseinander wie bei unserem Heuberg, den auch noch niemand von uns gemessen hat und der über unserem Leben steht. Immerhin hat er einen Namen, und ich glaube: von uns, denn auf einer Karte erscheint dieser Berg nicht. Die einen sagen, er sei tausend, die anderen, er sei hunderttausend Jahre alt, weder das eine noch das andere ermessend. Eine Freundin von mir, die ganz ohne Orientierungssinn lebte, sagte: Vier Meter. Und auf meine Frage: Wie alt? antwortete sie: Ewig! Einfach, um auch etwas zu sagen. Schließlich hatte ich sie gefragt, auch weil ich selbst keine Antwort habe. Ach, wir vertaten uns schon in der Erdkunde, brachten Städte und Länder durcheinander. Mit meiner Volksschulfreundin konnte ich nichts spielen außer Doktor. Ihren Namen weiß ich noch. Man hat ihr halt schon im Kindergarten bei Schwester Maria Radigundis nicht viel beibringen können. Alles entwickelte sich von Anfang ganz einseitig. Aber wir liebten uns und unseren Turm in unserer Mitte, auch wenn wir nicht wussten, wie hoch er war. Heute ist sie übrigens tot.
    Das Frühjahr war so spät bei uns, dass es immer erst im nächsten Jahr blühte. Alles fror, die Blumen und wir. Die Forsythien waren immer nur eine Erinnerung daran, dass es kalt, dass es nicht Frühjahr war. Ich hasste sie. Ich liebte die Zeit um den Weltspartag herum.
    Kleines Denkmal für Raiffeisen, den großen Raiffeisen, kurze Geschichte unseres langen Endes: Wer war Raiffeisen?
    Ein Name aus dem neunzehnten Jahrhundert, stand über dem Raiffeisen-Warenlager mit angeschlossener Bank, mit dem dazugehörenden Zeichen, zwei übereinandergekreuzten Pferdeköpfen, glaube ich. Mit dem Namen verband ich weiter nichts, vielleicht glaubte ich, Raiffeisen sei eine Art Nikolaus des Weltspartags, da wurden die Sparbüchsen geöffnet. Seine Idee war großartig: Einer für alle - alle für einen, und hatte etwas ausgesprochen Schlichtes.
    Raiffeisen war da, so unbestreitbar wie das braune Meßkircher Höhenfleckvieh, die Mengele-Miststreuer, wie unser Kirchturm und unser Friedhof mitten in den Feldern meiner Erinnerung. Später las ich, Raiffeisen sei ein religiöser Sozialist gewesen, der landwirtschaftliche Hilfsvereine im Westerwald gegründet habe. Außer dem Rechner sollte jede Arbeit ehrenamtlich sein, ich weiß, er kam am Sonntagmorgen nach der Kirche ins Haus, die Raiffeisenkasse hatte er in der rechten oder linken Hand, er kam zu Fuß.
    Bald, noch zu meinen Zeiten, war auch die letzte Genossenschaft verschwunden (man sagte: Fusion) und von Technokraten ausgelöscht und hat außer ihrem Namen Raiffeisen-G. (mit dem sich ja auch das Einer-für-alle-Monster, der R.-Konzern, getarnt hatte) nichts behalten.
    Die Raiffeisenbank hat unseren Ruin, unser aller Ruin finanziert und ermöglicht, hat uns alle zu neuen Ställen, Miststreuern, Krediten, überhaupt zur neuen Zeit, in die wir passen sollten und die niemand überstanden hat als sie und ihresgleichen, überredet. Die Raiffeisen-Kasse drängte zu Investitionen, bis wir kapitulierten, bis zur lautlosen, unheimlichen, endgültigen Aufgabe unserer selbst. Der Boden unter unseren Füßen und wir selbst wurden (für die anderen, für den Rest der Welt) zu einem ärgerlichen, subventionierten Faktor der Euro-Multi-Agrarindustrie. Das ist die philosophische Seite unserer Geschichte.
    Ich weiß, Raiffeisen hat das nicht gewollt. Was wollte er? Beschaffung von Vieh für die unbemittelten Landwirte, Tatchristentum, von der Bergpredigt her, las ich, »seine Arbeit war von zahlreichen Fehlschlägen begleitet«.
    Wusste unser Raiffeisen-Direktor Bantle, dieser Kerl, dem wir uns überschreiben mussten, von den Zielen Raiffeisens, der seiner Firma den Namen gegeben hat?
    »Eine Vergütung erhält nur der Rechner.«
    Der überreichte uns die bald im Himmel verschwundenen Luftballons am Weltspartag. Unter ihm war unser Viehverein, die Einrichtung einer Besamungsstation beschlossen, eine Molkerei etc. gegründet worden: Alles ging

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