Einmal auf der Welt. Und dann so
es saßen auch noch Gäste am Tisch, die Tante, zum Beispiel, die das Jahr über in einem Kloster lebte und dort für uns und die ganze Welt betete, was bitter nötig war. Die Ohrfeige wäre aber überhaupt nicht nötig gewesen, denn auch die Tante verstand dieses Wort aus dem Wochenend nicht und hätte gerne gewusst, was das bedeutete.
Ich war noch viel zu klein für diese Ohrfeige. Es war vielleicht die einzige, die ich zu Hause erhielt, im Gegensatz zu meinem Leben in der Welt, das eine einzige Ohrfeige war, besonders in der Schule, was sage ich Schule: Das war die Schule. Ich fragte und bekam als Antworten keine Antworten, sondern ratlose Gesichter, errötende, oder Ohrfeigen, je nach Charakter.
Sie hätten es noch im Spiegel sehen können. Ihre Hände waren immer zu groß für meinen kleinen Kopf.
Bis auf dieses Muttermal unterschied ich mich kaum von ihnen.
Sie sagten mir, das sei ein Muttermal. Ich sah es. Da, oben links, wenn auch niemals richtig, sah ich dieses Fanal meines Lebens. Seitenverkehrt und im Spiegel, wie so vieles, was zusammen mit mir aufwuchs.
Als zum ersten Mal der Schularzt kam, Dr. Eiermann, lachten die Aufgeklärtesten von uns schon, wegen dieses Namens und was wusste ich. Sanitätsrat Dr. Eiermann kam eines Tages angefahren, wir hatten uns in unseren Schiesser-Unterhemdchen aus dem naheliegenden Radolfzell, auch zum ersten Mal, nach Geschlechtern getrennt aufgestellt, nachmittags waren die Mädchen dran und am Morgen wir. Ohne pervers zu sein, schaute er, begleitet von einem geübten Handgriff, auch noch ganz schnell nach, ob mit unseren Schwänzen alles in Ordnung war. Es war alles gut so, doch als Einziges von mir nahm er dieses Muttermal wahr, das er entdeckte, als ich mich nun auch noch von diesem Schiesser-Unterhemdchen ganz »freigemacht« hatte, wie verlangt, freigemacht, noch so ein Fremdwort, sah es an mit einem Blick, als würde ich von ihm den Stempel nicht erhalten, das Zertifikat, als ginge es ihm immer noch um Rassenreinheit. »Na, was haben wir denn da?«, bemerkte er, Tante Mausi hätte »genüsslich« gesagt, denn dieses Muttermal war »ein Stück Afrika«, sagte er.
»Wie meinen?«, hätte nun die freche Mausi gesagt. Dagegen ich, ich, ich hatte etwas, mir fehlte etwas.
Da war ein Mangel. Da sah man etwas, was ich hatte, was mir fehlte. Das war im Jahr 1960 oder 61, im Jahr des Mauerbaus.
Dieser Sanitätsrat Dr. Eiermann, bald mit einem Bundesverdienstkreuz in die Pension verabschiedet, das war, auf das traurige Jahrhundert hochgerechnet, erst vor kurzem und wenige Jahre, bevor wir gegen Ende der ersten Fresswelle gezeugt wurden, war schon im Zweiten Weltkrieg tätig gewesen, erfolgreich, wie anzunehmen, als Hygienearzt. Er hatte schon bei Dr. Schmieder, noch einer von der Seite der Herrenmenschen, die ersten großen Schritte in Zeiten des Euthanasieprogramms gemacht. Eiermann hatte auch in Rottenmünster gearbeitet, noch so ein Ort, noch so ein Wort, wohin unsere niemals vergessenen und ein Leben verschwiegenen Erbkranken und Idioten verbracht und entsorgt wurden, vergast, gewissermaßen in einem Probelauf, und dann, als wäre es nichts gewesen, kam er mit seinem Dienstwagen angefahren durch ein Gelände, das dalag wie immer, als wäre nichts gewesen, das Bodenseehinterland, als wäre das hier irgendwo südlich des Alls.
Ich aber, gefragt, wo das wäre, wo ich war, hätte gesagt: im Himmelreich, an der Grenze von Mesopotamien und Fleckviehgau, in der Mitte der grausigen Welt.
Wir waren niemandes Hinterland und Provinz. Das war die Welt, wo wir waren. Und der Bodensee war auch nur unser schöner Hintersee, von dessen Ufern militärisches Hightech, Waffen und sonstiges Tötungsmaterial in alle Welt geliefert wurde, wovon die Einheimischen wunderbar lebten, und an Heiligabend sangen sie Stille Nacht und beteten für den Weltfrieden, nachdem sich der ewige Streit in den Tagen vor dem Fest in nichts aufgelöst hatte.
Und dann kam Dr. Eiermann noch ein letztes Mal, zur Messerimpfung, vor der ich ein Kinderleben lang eine Art Todesangst gehabt hatte, die sich auch als umsonst herausstellte. Da hörte ich wieder, wie dieselbe Ziegenstimme »Da!« sagte, wie Eiermann, der mich glatt vergessen gehabt hätte, wäre nicht das Muttermal gewesen, »Da!« ausrief, als hätte er einen Fund gemacht, und wie er auf mein Leben zeigte. Doch eigentlich war ich wegen dieses Messers hier, mit dem ich für das Leben geimpft werden sollte.
Ich hörte, wie er »gefällt mir
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