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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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die Zeit der Samstagabende. Es folgte die Zeit eines Lebens wie Kraut und Rüben. Ich war eben krank, wir waren krank. Wir hatten alle, ich nenne es: eine Art Maul- und Klauenseuche. Gerade fünf Kilometer von der Stelle entfernt, wo ich schließlich geboren wurde (4500 g), stand ein Kreuz, und unter dem Kreuz stand ein Büßer, nackt, betend, nur mit einem Rosenkranz an der Stelle, wo ein Bischof sein goldenes Brustkreuz trägt, sonst nackt. Ich habe ihn gesehen. Es war der erste Nackte, den ich gesehen habe; und dann so einer! So wollte er die Welt retten (von der Bundesstraße 311 aus und ihr zum Zeichen) und landete stattdessen in der Psychiatrie.
    Waren wir ungläubig, wurden wir für unseren Unglauben mit dem Leben bestraft.
    Noch näher zur Stelle hin, wo auch unser Philosoph das Licht der Welt erblickt hatte, stieg ein Mann mit der Maske unserer Katzenzunft (die ansonsten bis Aschermittwoch ihr Unwesen treibt) zu den alten alleinlebenden Frauen ins Bett. Er kam lange Zeit durch den Keller nach oben, bis er fast alle durchhatte: je älter und alleinstehender, desto unbeschreiblicher die Lust.
    Das war freilich ein Psychopath, aber einer von uns, denn wir waren krank. Bei der Verhandlung im Meßkircher Schloss (wo sich das kleine Amtsgericht einquartiert hatte) sprach er von ganz anderen Dingen, gar von Heidegger. Das alles geschah mitten unter uns, in einer Gegend also, die Heidegger für säurefrei erklärt hatte, in einer Welt, aus der er seinen Schleuderhonig bezog.
    Jede Verirrung hatte uns schon erreicht, selbst der Telefonsex, sobald dieser möglich war, das heißt: kaum dass die ersten Apparate aufgestellt und die Damen von der Vermittlung überflüssig geworden waren. Kaum gab es das individuelle Telefongespräch, kamen auch schon die ersten Meldungen (»Ich schieb dir gleich was ganz Dickes unten rein«, zu unserer Ehrenrettung mit dem Akzent und in der Sprache eines unserer Flüchtlinge ...). Ich selbst war, etwa zehnjährig, auf eine Frau Moser hereingefallen, die sich - »bin eine rüstige Rentnerin«, sagte sie mir - mit ihrer Männerstimme »für Verschiedenes« anbot und zum ersten Mal in meiner Muttersprache von »Ficken« sprach. Und nun sollte ich eine meiner Schwestern ans Telefon holen, vorher aber noch das Telefonkabel durchschneiden, da sonst unser Haus explodiere.
    Das hatte ich nun davon, dass ich vom ersten Klingeln an (das Gerät stand eines Tages bei uns im Hausflur) zum Telefon rannte, bis heute auf den Anruf meines Lebens wartend.
    Damals, noch so ein Hauptwort, steigerte ich mich ins Leben hinein, bis hin zu Scheinschwangerschaft, bis hin zu Scheinschwangerschaftsverdacht, das war es, glaube ich, manchmal dachte ich: Du kriegst ein Kind, so weh tat alles. Meine anderen hatten sich doch auch in Krankheit und Unglauben behauptet -oder waren eben gestorben. Die Toten meiner Kindheit - Der Tod - und Gott - waren ja die beiden Götter meiner Kindheit. Alle unsere Toten: Fritz zum Beispiel. Von Haus zu Haus war die Nachricht gegangen. Und erst die Totenglocke: Sie wehte uns die Nachricht durch die Fensterritzen herein. Wir zitterten. Wir wussten noch nicht, wer es war von uns. Bald klopfte es an der Tür, und die Nachbarin sagte: Der Fritz. Das ist lange her und muss kein Kind betrüben. Lassen wir also die Toten liegen, an der Stelle, wo sie gestorben sind, und sie vom Beerdigungsinstitut abholen. Die Totenglocke wollen wir überhören. Wir wollen per Gericht erreichen, dass sie abgestellt wird. Schließlich wohnen wir in einem Wohngebiet. Kind! Fritz! Caro! Gigi! Frederic! Seid ihr da? Könnt ihr mich hören?
    Keiner kommt mehr und sagt uns, dass einer von uns gestorben ist. Wir sitzen nun vor dem Bildschirm in unseren verunstalteten Häusern (mit den Satellitenschüsseln) und weinen, wenn wir vorgelesen bekommen, dass Audrey Hepburn in ihrer Villa am Genfer See im Alter von dreiundsechzig Jahren gestorben ist. Unser Toter aber, ein schäbiger Einzelfall, muss kein Kind betrüben. Er muss nur noch gewaschen und verladen werden.
    Das Beerdigungsinstitut übernimmt den Transport, die Wäsche, alles. Der Tote ist in der Stadt gestorben, schon gar nicht mehr gestorben, die Geschichte hört im Krankenhaus auf, im fahrbaren Kranken- wie Totenbett aus Aluminium. Der Tote kommt mit dem Aufzug in die Tiefkühlhalle. Niemand will ihn mehr sehen. Der Sarg wird geschlossen aufs Land geliefert und bleibt zu. So endet unsere Geschichte.
    Unser Friedhof bleibt vorerst noch, was er ist - und offen,

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