Einmal auf der Welt. Und dann so
nicht!« wie zur Seite hin gesprochen sagte, zu seiner grobgestrickten Assistentin hin, die ihm das Messer reichte, und nun, dachte ich damals, würdest du am liebsten sterben. Nebenher, an der Stelle, wo ich, wäre es nur ein Albtraum gewesen, aufgewacht wäre, musterte mich dieser Mediziner, Mitläufer, als solcher eingestuft, ein letztes Mal, wie wenig später Dr. Hindenlang, der Vorsitzende bei der Musterung, noch so ein Mediziner. Ich wäre vielleicht der Erste auf seinem Wagen gewesen.
Wäre der Krieg anders ausgegangen, wären all diese Dr. Eiermanns - sie arbeitete auch als Medizinerin - und Hindenlangs wohl gar nicht zu uns gekommen.
Unser Dr. Eiermann! Ach! Nur das Kriegsende verhinderte, dass es auf der rassenhygienischen Leiter weiterging.
Mein Muttermal missbilligte er vor allem wegen anderer Bedenken, »eugenetischer«, wie er - altmodisch - noch gesagt hätte, statt »genetischer«; und nicht, weil er mich als zukünftiges Opfer jener unheimlichen Krankheit sah, die uns auffrisst, für die wir keinen anderen Namen haben als Krebs.
So weit die Vorgeschichte.
Ich saß noch immer fest. Und doch vergingen sie, die Jahre, wie die Wolken. Aber immer noch wartete ich darauf, dass das Leben nun endlich begänne.
Schon längst konnte ich Schwarz von Blond unterscheiden. Und auch »mein Herz hatte Fernweh«, es war Fernweh: So sehr saß ich in meinem Himmelreich fest, seit 19 Jahren im selben Bett und nichts anderes als geschlafen. Mich zog es schon nach Amerika, das südlichste Amerika musste es sein, Patagonien, das fernste Festland, das südlichste, von der kalten Schönheit Schwackenreute aus gedacht, als wollte sich das Schicksal über mich lustig machen, Pico Grande musste es sein, wo Menschen lebten, die ich nie gesehen hatte und, wie ich glaubte, ein Stück von mir waren. Als wollte sich das Schicksal über mich lustig machen. Doch diese Reise hatte ich mir für später aufgespart. Vorerst Interrail.
Dass »später« so viel wie »bald« heißen konnte, davon machte ich mir »damals«, das mit den anschließenden Jahren zu einem einzigen, ununterscheidbaren »vorbei« verschmolzen war, wie der Rest von einem Großbrand, noch keinen Begriff.
Dann fuhr ich los. Und nun war ich einer, als wäre ich einer von jenen, die sagen »Ich will endlich leben!«, weil sie sich nicht zu sagen trauen: »Ich will leben, fressen, saufen, lieben, vögeln, Tscha-tscha-tscha!« Es begann mit Interrail durch halb Europa, einmal losgefahren, kam ich nie wieder zur Ruhe, wer weiß, bis zum heutigen Tag nicht.
Gerade hatte ich das Abitur bestanden, hatte das Reifezeugnis ausgehändigt bekommen aus der Hand eines Menschen, der mir eigentlich gar nichts zutraute und sich die Zukunft eines Träumers gar nicht ausmalen wollte, wie ich erfuhr, denn ich ging ja gar nicht zu jener Feierstunde, aus Mitgefühl mit meinen fünf Freunden, die durchgefallen waren, weilte vielmehr an jenem Tag gerade zum ersten Mal in Lissabon und hörte wohl dort zum ersten Mal Amalia Rodrigues im Radio, wie sie A Rua do Capláo sang.
Und zurück von dieser ersten großen Reise, auf der ich vier Wochen lang fast alles zum ersten Mal sah, das Meer und die Palmen, Schamhügel und Triumphbögen, war es erst dieses irrsinnige Jucken, wohl aus einer der Jugendherbergen, vielleicht war es Wien, und dann, aber dann erst recht dieses mein Muttermal, welches meinem Leben von Anfang an und abermals eine Richtung gab, die ich mir eigentlich nicht ausgesucht hätte.
Gleich von meiner ersten großen Reise hatte ich eine ansteckende Krankheit bekommen.
Und zu allem kam noch die auch nach meiner Rückkehr von der Reise nach wie vor trostlose Lage des Hauses mit dem Schmerz als Grundriss.
Der Brief vom Vermessungsamt war gar nicht an mich adressiert, sondern an meinen Vater, der so hieß wie ich, und war versehentlich in die Plastikwanne geraten, in der sie immer die Sachen für mich aufhoben. Vielleicht war es aber gar nicht versehentlich, sondern absichtlich, und er wollte mich auf diese Weise informieren, wie es um uns und alles stand.
Das Vermessungsamt setzte meinen Vater in Kenntnis darüber, dass in der kommenden Woche das gesamte Anwesen vermessen werde, das geschehe, wie der Angeschriebene nun längst wüsste, in Zusammenhang mit dem Zwangsvollstreckungsverfahren; und dass Sorge dafür getragen werden solle, alle Räumlichkeiten frei zugänglich zu machen oder zu halten, frei von »jeglicher Gerätschaft und jedem Gerumpel«.
Der Ortstermin
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