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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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nächsten Wochen machen, was ich wollte, und das Geld dazu hatte ich auch.
    So musste ich also ohne Muttermal auf meine Abschiedsreise gehen.
     
    »Geht es dir auch so, dass du manchmal an Menschen denkst, die du noch nie gesehen hast, oder an diesen und jenen, an den du lange nicht gedacht hast ... vielleicht lebt er noch, hat ja ein riskantes Leben geführt?«
     
    Mein nun fehlendes Muttermal gab mir Zeit, die Möglichkeit, noch einmal zurückzukehren und mein frühes, junges kurzes Leben, das ich am Ende glaubte, vorbeiziehen zu lassen, wie bei einem Absturz oder in einem wahrhaften Gedicht: alles auf einmal zu sehen und zu leben, eine Ewigkeit und drei Sekunden, so lange dauerte es, über alles nachzudenken, mein Leben in ein paar Sätzen, wie es war und vorbei war, wie ein lyrisch gestrickter Mensch gesagt hätte, und somit aufzuschreiben und einzubrennen in meinem Hirn, von dem die Hirnforscher sagten, das sei alles, mein »ich war einmal«, als wäre es das Buch meines Lebens.
     
    Wie ich bis dahin lebte: weiß nicht mehr. Habe ja fast alles vergessen.
    Weiß nur noch, dass Feuerland unter dem Vorzeichen stand, dass es nicht mehr lange gehen würde mit mir.
     
    Mit dem Studium würde es nun wohl nichts mehr werden. Ich hatte an etwas wie Psychologie, Vergleichende Literaturwissenschaft (wieder einmal mit dem Hirn- und Hintergedanken, Schriftsteller zu werden und alles aufzuschreiben) gedacht - oder gleich Theologie, die etwas von allem war und bot und am Anfang jeglichen Universitätsbetriebs stand.
    Wie in alten Zeiten, einst, als ich Priester werden wollte, und deswegen erst einmal auf das nahe liegende Heideggergymnasium am Meßkircher Schlossberg geschickt wurde, dachte ich nun wieder an die Theologie.
    Und wenn kein Wunder geschehen sollte, dann gäbe es immer noch Gedichte von Menschen und Träume.
     
    Der schwarzblühende Flieder im August, die Familienpleite, hatte schon Joseph von Eichendorff zum Dichter gemacht, von der er ein Leben lang zehrte.
    Und das Verblühte war den Sommer über weiter verblüht, das Verblühteste hing und stand nun rabenschwarz verloren in den Fliedersträuchen, einst »blau und rauschbereit« wie Eichendorff.
    Auch diese Angst vor dem unabwendbaren Verblühen und Ende, als gälte auch für mein Leben ein »Zeitfenster«, kam noch hinzu.
    Das erste Mal in meinem Leben kam nun der tatsächliche Tod, der eigene, mit dem ich bisher nur gespielt hatte, ins Spiel, und zwar im Präsens.
    Also war es abermals dieses mein Muttermal, welches meinem Leben noch einmal eine Richtung gab, die ich mir eigentlich nicht ausgesucht hätte.
     
    »Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten«, und doch bin ich schließlich an meiner eigenen Wunde gestorben ... (so ergänze ich einen schönen Satz). Adalbert Stifter, ein Dichter, brachte Licht in mein Leben, dunkles Licht... »als liege eine sehr weite Finsternis um das Ding herum«. Ich hatte einen Selbstmörder als Lebenshilfe, seine Nachsommerwelt als Trost, diesseits und jenseits vom Himmelreich, einer Ortschaft, einfach, wie ein Halm wächst. Und außerdem standen da nun auch noch überall Mengele-Landmaschinen mitten in den Feldern meiner unaussprechlichen Erinnerung.
    Mein Leben: »Die Erinnerung sagte mir später, dass es Wälder gewesen sind.«
     
    Meine einzige Gewissheit, bald zu sterben, zog mein Leben zu einem einzigen Präsens zusammen, im Zeitraffer, und meine Erinnerung wurde zu meiner zweiten Gegenwart.
     

Erinnerung, zweite Gegenwart oder Erinnerung an den Schnee von gestern
    Als ich ein Kind war, spielte ich mit einer Inbrunst und einer Leidenschaft, dass ich die Zeit vergaß. Es war eine Ewigkeit. Und eines unserer Spiele, bald nach der Laufgitterzeit, hieß auch so: Ewigkeit. Mit Rita und Luischen, unten, eine Art Doktorspiel -in der Garage an der Straße von Wien nach Paris.
    Hätte mich damals einer gefragt: »Was hast du die ganze Zeit gemacht?«, dann hätte ich sagen können:
    »Ich habe gelebt.«
    Und nach der Zeit gefragt, hätte ich mir sagen müssen: »Sie ist vergangen.«
    Trotzdem hätte ich nun weinen können, vielleicht auch nur »weggeddemm«. Wie das einst zu Hause hieß. Auch weil die Stelle von der Messerimpfung, die wir beim Baden im Lausheimer Weiher miteinander verglichen, so schön verheilt war, sodass man nichts mehr davon sah, und wir mussten lachen. Doch wir hätten auch weinen können. Weil alle Stellen so schön verheilen.

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