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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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Lesen und Schreiben lernte. Sie waren wie ich aus irgendwelchen, aus unerfindlichen Gründen gleichzeitig geboren worden, auf dem Rathaus angemeldet, getauft, geimpft, in den Kindergarten, in die Schule geschickt, gefirmt und gemustert worden.
    Ich habe mir auch die Tinas und Marinas nicht ausgesucht, mit denen ich den Schlossberg hinaufging, und in der Turnhalle tat ich auch nicht das, was sie wollten, führte nicht ihre Handbewegungen an Barren und Reck aus, wie sie es mir und den anderen vorgemacht hatten, obwohl ich das Zeug dazu gehabt hätte, wie es hieß, obwohl ich also nicht zu den Flaschen zählte.
    Wenn ich wie jeden Morgen um drei viertel acht hineinging und lange nach Mittag wieder herauskam, wollte ich später, wie ich früher dachte, alles vergessen oder wie es war vergessen und wie die Sonnenuhr nur das Schöne behalten. Aber es ist so herausgekommen, dass ich mich heute an Schönes kaum erinnern kann und nur das weniger Schöne geblieben ist.
    Ich hatte mir die grobe Ledertasche, mit der ich neun Jahre am Stück und nichts anderes den Schlossberg hinaufging, nicht ausgesucht. Auch die Schüler nicht ausgesucht, und sie mich auch nicht, die neben mir denselben Weg gingen, die neben mir den Schülergottesdienst absaßen und mir fremd waren, obwohl ich nichts anderes kannte als sie und mein ganzes Leben bis dahin neben ihnen hergegangen war und nichts anderes, und die im Musikunterricht als Trottel vom Land wie ich zusammen mit mir genannt wurden und die dieselben Lieder sangen wie ich, zusammen mit mir: Freiheit, die ich meine, sangen wir.
    Ich und »meine anderen« sangen nicht schlecht, und der Musiklehrer begleitete uns auf dem Flügel.
    Lizzy wurde gerne von ihm als frühreif bezeichnet, als ob das sein Wort für genial gewesen wäre, weil sie schon einen Busen hatte, aber keinen BH trug, um den Lehrern zu gefallen. Frühreif.
    Und schon kamen sie mit ihrem »mein Bauch gehört mir«.
    Ich saß drinnen als Trottel vom Land zu allen Jahreszeiten, die mich von draußen verfolgten.
    Die Musikbeispiele kamen vom Band. Im Musikzimmer hörte ich Ausschnitte aus Tristan und Isolde, Ausschnitte aus der Entführung, Ausschnitte aus dem Fliegenden Holländer, dies schon in der Untertertia. Kippenberger gab gelegentlich auch Ausschnitte aus eigenen Kompositionen, denn er komponierte selbst, im Stil der letzten Donaueschinger Musiktage.
    Da saßen die Dreizehnjährigen und die Vierzehnjährigen mit ihren Heuberger und Linzgauer Gesichtern und wurden zum Singen aufgefordert. Und wenn einer nicht singen wollte, weil er nicht singen konnte? Diese Trottel vom Land hätten lieber auf dem Heuberg bleiben sollen und mit der Mistgabel auf den Steinäckern den Mist verteilen, anstatt ihren Mistgeruch mit ins Musikzimmer zu bringen. Die Redewendungen und Grimassen des Musiklehrers fielen nicht einmal ins Gewicht. Es war so, als ob sie dazu, zur Schule, gehört hätten.
     
    Um die kleinste Entscheidung zu treffen, brauche ich die größere Hoffnung der Lebenden. Damals hätte ich weit mehr Berechtigung gehabt als heute, abzubrechen, nicht mehr in diese Schule am Schlossberg zu gehen.
    Doch ich habe es nicht getan. Jetzt habe ich die Berechtigung dazu verloren. Ich nahm das Leben in Kauf. Damals hätte ich mit Recht auch noch in eine andere Richtung gehen können. Aber ich fuhr noch auf Jahre hinaus mit allen möglichen, oftmals abscheulichen Busfahrern, die Dreizehnjährige behandelten wie kleine Kriminelle und uns jeden Morgen ab sieben einsammelten und in die Stadt brachten. Dort wurden wir am Stadtrand ausgeladen und konnten noch von selbst den restlichen Kilometer den Schlossberg hinaufgehen, um vom Hausmeister als Trottel vom Land empfangen zu werden.
    Als solche konnten wir nach Ende des Unterrichts noch ein oder zwei Stunden in der Stadt herumlungern und auf diese Art auf den Bus warten. Sie und ich konnten in den Bären gehen und rauchen und trinken und dreckige Witze anhören, die wir nicht verstanden, oder in der Bäckerei Zum Stiefel am Marktbrückle eine Tafel Ritter-Sport mitlaufen lassen. Ich klaute nie, ließ mir aber von den anderen Stehlratzen je nach Appetit mitbringen: Nusshörnle, Mohrenkopf, halbe Hähnchen. Gegen zwei konnte ich neben meinen anderen durch den Hofgarten zum Bus gehen.
    Jahrelang konnte ich ihnen und ihren Pferdeschwänzen nicht beikommen. Schon bei den Bundesjugendspielen 1966 tanzten sie mir ihren Kasatschok vor.
    Schon 1968 standen dieselben, frühreif gewordenen Lizzies am

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