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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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Nichts lässt man uns, nicht einmal den Schmerz, und eines Tages wird alles vergessen sein.
    Und nun, und doch: Jeder... Mensch, ob Mann, Frau, Schriftsteller, oder einfach Dichter und Idiot, hat eine Verletzung, eine Wunde, aus der es weiter blutet. Erinnerungsweise. Selig der Mann, dessen Schmerz zur Sprache wurde.
    Die Erinnerung ist eine Bluterkrankheit. Es fehlt wohl das Gerinnungselement des Vergessens.
    »Ich blute, also bin ich«, das sollte mein erster Satz sein.
     
Wenn wir brennen
     
       Lisi steht mit dem Besen im Hof. Antonius kommt von der Einweihung des Krematoriums zurück. Er erzählt ihr, wie es ist, wenn wir brennen. Antonius will sich nicht mehr verbrennen lassen. Das Auto ist schon gewaschen. Sie hat einen sauberen Stallbesen in der Hand, grobes Material, selbst gebunden. Lisi wird gleich schlecht, wenn Antonius nicht gleich mit seinem Krematorium aufhört. Seine Frau soll keine Arbeit haben mit ihm. Saubere Sache. Das Krematorium hatte einen Tag der offenen Tür. In den Ofen konnte man durch ein Loch sehen. Lisi sagt, Antonius solle jetzt aufhören. Die Ziege sei noch einmal aufgestanden. Es sei den meisten schlecht geworden. Am Morgen und am Nachmittag hätten sie eine Ziege verbrannt, um zu zeigen, wie die Anlage funktioniert. Er habe sogar sofort kotzen müssen, obwohl er nur einmal kurz durch die Luke geschaut habe. Lisi habe keinen Grund zum Kotzen, sie sei ja gar nicht dabei gewesen. Normal dauere es viel länger. Vier Stunden. Der Sarg glüht und wird durchsichtig.
     
    Antonius erklärt ihr den Weg zum Krematorium. Es stellt sich heraus, dass sie die Neuapostolische Kirche für das Krematorium hielt. Lisi stützt sich auf den Besen. Sie schüttelt den Kopf. Antonius hat alles erzählt. Ilse sei seit zwei Wochen im Krankenhaus. Es sehe schlimm aus. Sie dürfe bald nach Hause. Man habe aufgeschnitten und gleich wieder zugemacht.
    Antonius fährt weiter. Lisi muss noch den Hof kehren. Die Glocken läuten den Sonntag ein.
    Einer meiner Vorfahren war mit Napoleon in Ägypten. Auf den Feldern stehen Mengele-Landmaschinen herum. Die Wegwarte ist mein Lieblingsblau
     

Die Erinnerung fällt vom Fahrrad und bleibt liegen
    Tut weh. Blutet etwas. Offenes Knie. Kommt kaum auf die Beine und hinkt dann. Steigt wieder aufs Fahrrad und fährt nach Hause. Begegnet Lisi, die mit dem Besen im Hof steht. Es ist Samstag gegen vier. Die Glocken läuten den Sonntag ein. Steht auf dem Fußballplatz, geht mit Fritz in den Löwen.
    Sie blutet, der Reihe nach, aus verschiedenen Gründen. Die Erinnerung stürzt vom Pferd, fällt nach rückwärts, blutet aus dem Kopf. Macht vorher noch einen Purzelbaum ins Gras.
    Die Erinnerung wandert aus.
    Sie kommt vom Krematorium zurück.
    Sie trägt zu enge Badehosen.
    Sie geht den Schlossberg hinauf, flucht ins Gras.
    Hat ausgeschrieben.
    Hat aufgehört zu rauchen.
    Trifft ihre Kriegskameraden.
    Ist nicht mitgereist.
    Steht auf dem Rummelplatz. Wird von Jahr zu Jahr kleiner.
    Wächst ihm über den Kopf.
    Geht baden.
    Grenzt die Felder ab.
    Dreht sich mit der Prozession im Kreis.
    Grenzt an die Friedhofsmauer. Blickt Richtung Heuberg.
    Das Wetter bleibt, wie es ist.
    Kommt mit Heidegger durch die untere Hofeinfahrt hereingefahren.
    Sieht kein Land mehr.
    Sieht den Namen Mengele mitten in ihren Feldern stehen.
    Öffnet in umgekehrten Hosen die Tür. Ist besoffen.
    Hat einen Rausch. Hat einen Kater.
    Kommt als Nachtfrau.
    Sieht, wie Lisi mit Boden zugedeckt wird.
    Hat keine Kinder.
    Stellt mir ein Bein. Bringt die Bilder durcheinander. Die verschiedenen Fotografien. In der ersten Reihe Lisi im Sonntagskleid.
    Sieht die Dreckig in groben Umrissen auf der Treppe sitzen und darauf warten, dass etwas los ist.
    Steht mit einem Taschentuch am Bahnhof.
    Sieht Lisi noch einmal, wie sie mit Boden zugedeckt wird, und den guten Strittmatter, der behauptet, dass sie aus demselben Boden gemacht sei.
    Die Alleserinnerung.
    Ich habe keine Erinnerung. Ich habe so gut wie alles vergessen. Kleiner Schmerz.
    Kleine Zeit. Das Glück setzt aus. Der Schmerz setzt aus. Die Erinnerung setzt aus.
    Die Erinnerung setzt eines Schmerzensfreitags ein. Die Erinnerung wird zum Ichfall. Ich war einmal.
     
Ich war einmal
     
    Schmerzensfreitag, weil.
    Die gewöhnliche, die alte Grammatik mit ihren Kausalsätzen.
    Der Anfang, der Schmerzensfreitag, stimmt. Es war aber nicht Tag, sondern Nacht. Ich verfälsche die Daten meines Lebens. Ich setze an den Anfang eine Uhr. Sie zeigt gegen zehn Uhr abends, hoch

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