Einmal auf der Welt. Und dann so
hat mich für ihr Stück zum Schulfest 1965 vorgesehen. Ich soll von links nach rechts über die Bühne schreiten. Ich soll in der rechten Hand einen Luftballon und in der linken die kleine Luitgard von Boll halten, seither nie wieder gesehen. Ich soll elfjährig einen Zwölfjährigen spielen. Böse Mädchen stechen in den Luftballon. Nachher, das Herz aus Wachs, soll ich weinend auf der Bühne zusammenbrechen. Dazu soll ich auf Englisch singen
I
Had A Rubber Balloon Almost As Big As The Moon und die Größe des Mondes durch Handzeichen ausmalen. Ich verstehe kein Englisch. Ich habe eine schöne Stimme. Im Luftballon ist keine Luft. Der Luftballon platzt nicht. Ich ziehe ihn hinter mir über die Bühne. Die bösen Mädchen lachen nur. Ich könnte weinen.
Im selben Jahr soll ich von der ersten Reihe des Martinssaales aus ein Liebeslied aus dem Wilden Westen singen, ein Lied Oh My Sal She Am A Maiden Fair von einem, der auch kein Englisch kann, und bin noch ein Hillbillie und werde es ein Leben lang bleiben: Einmal auf der Welt. Und dann so. Ich glaube, die haben ihren Spaß mit mir, und bald verloren wir uns alle aus den Augen.
Ich möchte zurück in den Kindergarten.
Schwester Maria Radigundis hat mich in die Welt geschickt, das Gipshändchen ist nur eine kleine Erinnerung. Die Erinnerung ist ein großer Bogen. Großer Bogen, kleine Erinnerung.
Claudia steht an der Lehrerzimmertür. Fräulein Hermle hat ihre Tasche vergessen. Claudia ist eines von den bösen Mädchen. Sie verlangt Fräulein Hermle. Kippenberger sieht, dass die Hermle warme Unterhosen trägt. Auch das Gebiss ist in der Tasche. Zur Strafe darf Claudia das böse Mädchen nicht spielen.
Dieser Fratz ist für mich gestorben, denkt sie. Die Hermle wechselt das Gebiss. Ich soll lauter singen und Richtung Mond schauen, sagt sie.
Der Schmerz ist einsilbig. Ich bin lieber bei meinen Schweinen als bei meinen Mitschülern.
Der Eintagsschmerz
Schmerz, der neben dem Atem verläuft.
Ich gehe tiefer in den Wald. Da ist Großmutter in ein Fuchsloch gefallen. Großvater zieht sie aus dem Fuchsloch heraus. Sie hat sich nichts gebrochen. Ich weine. Das Pflanzensetzen geht weiter. Ich höre auf zu weinen. Es tat nicht weh. Es schmerzte mich das Zahnweh, und mein Schmerz war dein Schmerz, mein Muttertier.
Vom Fahrrad fallen tat weh. Auf den flachen Bauch fallen, mit dem Lenker dazwischen, schnürte den Atem ein. Ersticken tat weh, die Angst vor dem Ersticken. Einfache Sätze taten weh: Du bleibst zu Hause.
Ich darf nicht spielen. Daraus eine Geschichte machen, das Vorderrad ist verbogen, auf dem Knie ein großes Pflaster. Keine Geschichte daraus machen, wenn ich vom Dreirad, vom Zweirad, vom Pferd und vom Motorrad gefallen bin. Der Schmerz verschwand. Das Wort dafür zog sich mit dem Wort süß zur Erinnerung zusammen. Das regelmäßige Ein- und Ausatmen in der Zeit zwischen dem Schmerz.
Der Drachen, der vom Himmel fiel, tat weh.
Der Drachen, der gar nicht hinaufwollte, tat weh.
Der Schulausflug, der ins Wasser fiel. Meine Küken, die ins Wasser fielen und ertranken. Die anderen, die vom Relle gefressen wurden, als sie schon durch den Baumgarten laufen konnten. Mutti passte nicht auf. Ich musste es büßen.
Die Eintagsfliegen, meine Tränen, zahllos. Ich war ein Kind, das weinte.
Das Weihwasser, mit dem Regen vermischt, tat weh. Es regnet Tränen in den Ärmel. Es war kalt und es wurde gesungen. Es war einmal. Auch der Schreiner, der den Sarg zumachte, sagte, ich solle nicht weinen.
Ich hätte nicht vom Fahrrad fallen dürfen. Aber da es geschehen ist. Auch die Uhr war kaputt. Und Luischen verlor seinen Schuh, ja, seinen, und fand ihn nicht wieder, kein Wunder.
Nur Schürfungen. Es ging noch einmal gut. Ich hinkte nur etwas, zum Spaß. Ich sei der Lustigste von allen gewesen und lachte manchmal so, dass die anderen mitlachen mussten.
In der Zwischenzeit hatte es zu schneien begonnen, ich brauchte einen neuen Schlitten, und bald war es Sommer.
Efeu auf der einen Seite des Hauses, die Wand hoch.
Oder auch die vermoosten Stummel im Baumgarten. Die Birnbäume, die Schweizerbirnen, die Saubirnen, die ausgestorben waren. Die Zuckerbirnen. Ich hätte mehr in diese Birnen beißen sollen.
Kleiner Schmerz: die Gipshand, die Hand in Gips, das Händchen, zur Erinnerung an den letzten Tag im Kindergarten. Der Teller an der Wand mit diesem verlorenen Händchen. Mein Blick zur Wand hin, mit dem Efeu auf der anderen Seite, unsichtbar.
Kleiner
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