Einmal auf der Welt. Und dann so
Land gekauft, ich weiß nicht von wem, viel Land, und Leute wie dich und mich in eine Gegend gelockt, die sie bis dahin nicht einmal dem Namen nach kannten.
Der Amerikaner, wie mein Onkel zu Hause von seinen Geschwistern und Nachgeborenen genannt wurde, fuhr eines Tages des Jahres '38 als ganz junger Mensch nach Amerika und blieb dort. Er lebte in einem Häuschen auf dem Gelände der Estancia Las Plumas (»Die Federn«), einem Gelände von 25000 Hektar am Fuß der Anden. Las Plumas gehörte nun den Nachkommen von Don Eduardo, meinem Urgroßonkel, der ja auch aus meinem Haus stammte, und ich weiß nicht, was ihn hinausgetrieben hat, eine Hungersnot war es nicht. Seine Nachkommen waren keine richtigen Nachkommen, aber davon später. Mein Onkel, an den die Erinnerung in unserem Haus noch am lebendigsten war, hat es in der Neuen Welt zum Fellhändler gebracht, zu einer halben Indianerin, zu einer kleinen Fotosammlung, die das Leben in Pico Grande zwischen 1938 und 1973 dokumentiert und bald sehr wertvoll sein dürfte, und zu einem Sohn namens Angelo, der sich, ich weiß nicht, warum, das Leben genommen hat, damals zwanzig Jahre alt, genauso alt wie ich, kein Selbstmordalter, man macht es später oder früher, das weiß ich heute. Dass ich meinen Cousin nun nicht mehr kennenlernen würde, wusste ich aus dem letzten Brief meines Onkels, den ich noch vor meiner Abreise erhielt.
Der Krieg, wie es zu Hause hieß, verhinderte die Rückkehr. Das Einzige, was noch kam, waren Briefe. Nur noch aus Briefen wussten wir, was aus dem Onkel geworden war. Wir wussten nur so viel, wie in den Briefen stand. Eduardo war noch alle paar Jahre in die Heimat zurückgekehrt, bis zu seinem Tod kam er alle paar Jahre in sein Geburtshaus, mein Geburtshaus, auch nach dem Krieg ein letztes Mal noch. Antonio aber hat nur noch Briefe geschrieben. »Ich bin gut angekommen. Ich bleibe vorerst. Ich habe ein Halbblut geheiratet. Wir haben unseren Sohn Angelo getauft. Ich habe jetzt einen Fellhandel. Ich komme mit meinem Lastwagen in halb Patagonien herum. Angelo spricht schon Deutsch und Spanisch, wächst, ist ein ruhiges Kind, ist ein Träumer, hat sich das Leben genommen.«
Die Bilder landeten in unserem Album, in den Annalen einer nicht ganz namenlosen Familie vom Land mit ihren Äckern und Knechten und ihren Ferkelhändlern.
Amerika hatte sich früh in meinen Kopf gefressen, schon in einer Zeit, als ich Nord- und Südamerika noch nicht unterscheiden konnte. Mein Amerika war der Schauplatz eines kindlichen Fernwehs. Warum hatte es ihn aus meinem Haus, dem Zimmer, dem Bett, hinausgetrieben? Ich konnte ja nicht einmal die Gründe angeben, die mich hinausdrängten, oder den Grund der Gründe. Die ganze Kindheit habe ich gewartet und warten müssen. Ein ganzes Leben verstrich mit meiner Ungeduld. Die ersten Jahre waren Jahre, die nichts wert waren, die ich mit meiner Ungeduld verschlief, mit meiner Wut auf die Zeit, dass sie mich grundlos festhielt, allein deswegen, weil ich jung war. Zur Strafe musste ich zu Hause bleiben. Zu Hause war die Zeit gefüllt mit Leben und dem Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, machen musste, mit Messerimpfungen, Kinderschuhen, Kinderkleidern, dem Empfinden, noch nicht ganz in die Welt hineingewachsen zu sein, noch nicht ganz auf der Welt zu sein, so klein war ich, und mit leerem Magen, meinem Hunger und Durst, mit dem ausbleibenden Haar zwischen den Beinen, dem fehlenden Achselhaar, ich weiß schon, mit meiner Vorgeschichte und meinem Muttermal.
Kam ein blauer Brief aus Amerika, blieb ich an seinen Wörtern hängen, Wörter waren es, die mich verzauberten. Man las mir vor und sagte mir, dass im Grunde alles ganz wie zu Hause sei, die Anden als die Alpen meines Onkels, die Schafe als seine Kühe, der Lago Verde, den meine Verwandten so getauft hatten, weil er bis dahin auch nur eine Nummer der Landvermesser gewesen war, als sein Bodensee.
Sobald ich schreiben konnte, schrieb ich von meinem Hunger und Durst und schickte ihn nach Amerika. Diese Briefe waren die ersten Aufzeichnungen aus einem Leben, das mir geschenkt wurde, wie man sagte, erste Spuren, die ich Jahrzehnte später am Fuß der Anden wiederfand. Mein Onkel hat alles aufgehoben für mich. Er hat alles für mich hingelegt und mich wissen lassen, dass ich alles zurückhaben könne, dass er mir meine Erinnerungen schenken wolle zur Erinnerung an ihn.
Er wusste alles. Ich hatte ihm meine Gefangenschaft geschildert, so wie ein Kind, das Wort Gefangenschaft
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