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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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Briefen.
    Jetzt stieß ich auf ein Meer von Lupinen und gelben Rosen. Es war alles wie zu Hause und alles ganz weit entfernt davon.
    Brachte ich nicht meinen Schatten mit?
     
    Sollte ich zu Hause sagen: Es ist alles anders?
    Erst war ich auf den nächstbesten Verrückten hereingefallen. Ihn nach dem Weg zu Don Antonio gefragt. Von ihm sogleich zum Friedhof geschleppt, zum falschen. Ich wusste ja nicht, dass mein Onkel tot war. Aber er lag nicht auf diesem Friedhof, Gottesacker von Pico Grande, der als letzte Ruhestätte nicht zu erkennen war, eher Müllplatz als Gottesacker, beides ein wenig. Nach außen keine Trennungslinie, keine Mauer, nicht einmal ein Zaun als Grenze zum Leben hin. Von den Toten kein Zeichen, nur der Verrückte und ich. Schon wollte ich zum ersten Mal auf dieser Reise mein Tramalfläschchen anbrechen, das mir immer wieder das Leben erleichterte. »Du bist der Sohn Gottes!«, stieß er aus und zeigte auf mich, »du bist gekommen, um uns zu erlösen!« Alles in einem schlechten Spanisch. Er warf sich mir zu Füßen und krallte sich fest. Es gelang mir, mich loszureißen. Willst du uns so weiterleben lassen!, schrie er mir hinterher. Er wollte wenigstens ein Trinkgeld für seine Führung haben.
    Bald erfuhr ich: Mein Onkel war tot. »Fallecido« hieß hier das vornehme Wort dafür. Vorher schon hatte sich die Enttäuschung über alles, was ich sah und sehen musste, als Schatten über mich gelegt, zusätzlich zu dem von mir mitgebrachten Schatten. Das Fernweh war längst von der Erinnerung eingeholt. Das Reisefieber mit dem Beginn der Reise verflogen, und ich war längst nüchtern.
    Ich musste mich mit meinen ferneren Verwandten begnügen, den Abkömmlingen meines ersten Onkels, der Pico Grande gegründet hat. Sie nahmen mich auf. Im ersten Augenblick wollte ich gleich wieder abreisen, irgendwo anders hin nach einigen Tagen. Aber sie sagten mir, ich solle bei ihnen bleiben, so lange, wie ich wollte, und das habe ich getan. Ich werde sie Onkel nennen, Tanten, Cousins und Cousinen, für immer, der Einfachheit zuliebe. Sie waren es nur weit entfernt und irregulär dazu, wie man mir sagte. Denn ich war nur der Verwandte eines Betrogenen.
     
    Mein Aufenthalt begann mit dem Besuch der Gräber, ganz so, wie zu Hause die Feste begannen. Genau wie zu Hause lag auch der Friedhof meiner Verwandten auf einem Hügel, von dem aus man alles sah. Zu Hause war der Säntis unser Fujiyama, und hier war es ein genauso schöner Berg, dessen Namen sie mir nicht sagen konnten.
     
    Da lag er! - In einer Reihe mit den anderen, das heißt, ich las auf einem Stein meinen Namen und sagte unhörbar »vorbei« vor mich hin.
    Ein paar Tage nach diesem Besuch erfuhr ich von der Doctora, noch einem Menschen, den es hierher verschlagen hatte, als solche lernte ich sie kennen, wie es so weit gekommen war. In einem schönen altertümlichen Deutsch, wie sie es gelernt hatte, sagte sie mir »Meine Wiege stand am Dnjepr«. Sie kam nämlich aus Kiew, von wo sie schon als Kind geflohen war, und dann immer wieder geflohen, es waren Namen wie an einer Perlenschnur, die ich aus den Reisekatalogen kannte, die damals, wie der Atlas und die Wäscheseiten im Neckermannkatalog, im Himmelreich eine Erstversorgung in Sachen Sehnsucht sicherstellten: Kiew, Odessa, Berlin, London, Lissabon, Santo Domingo, New York.
    Jetzt hier, Chefin der örtlichen Krankenstation, seit Peron war alles frei, die schöne Baracke nannte sich Krankenhaus, seit dreißig Jahren war sie hier, und machte sich seit den Kindertagen von 1920 über den Menschen und die Welt keine Illusionen mehr, und ich versuchte, alles in meine Sprache zu übersetzen:
    Rosa, meine schöne Cousine, mit ihrem Gesicht, als wäre sie die Schwester von Joy Fleming, Geschwisterkindskind, mit dem ich in den kommenden Wochen mein Leben nicht teilte, meine Brieffreundin, die ich nun zum ersten Mal sah, wie sie lachte und lebte und traurig schauen konnte, hatte sich auf die Zeichen hin, dass es bei Onkel auf das Ende zugehe, an sein Bett gesetzt und ihm gesagt, dass er einen wunderschönen Tag vor sich habe: Schon in zwei Stunden oder noch früher könne er im Paradies sein. Ein frisch ausgeschütteltes Kopfkissen bekam er nicht, aber die Zusage, vielleicht in zwei Stunden schon Jesus persönlich vorgestellt zu werden. Sie war nämlich vor geraumer Zeit in die Fänge einer amerikanischen Sekte geraten, die den letzten Satz Jesu »Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« ganz wörtlich

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