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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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fiel nicht. Aber er hat mich verstanden. Wenn ich zu straucheln drohte, besann ich mich auf meine Fluchtmöglichkeiten in die Kordilleren. Und er? Trostbriefe schrieb er mir, ich weiß. Schon der erste Brief war ein Trostbrief, ganz so, wie man einem Kind schreibt: »Hier schicke ich Dir eine Ansicht von Pico Grande. Die Estancia unseres Onkels liegt drei Kilometer nach Nordosten. Die Schneeberge im Süden bilden die argentinisch-chilenische Grenze. Die zwei Drahtzäune mit dem schwarzen Strich auf der Ebene deuten den Weg nach Chile an. Zwischen der Ebene und der Hügelkette läuft der Rio Pico. Der andere Weg führt zum Lago No. 3. Das große Gebäude ganz rechts ist unser Clubgebäude. Daneben die Kirche. Die Gebäude links sind die Polizeistation, die Schule, das Gefängnis und das Krankenhaus. Ganz links wären das Hotel und die Geschäftshäuser. Viele Grüße! Dein Onkel.«
    Ich verstand alles: Ansicht, Estancia, Schneeberge, Nordosten, Drahtzäune, schwarzer Strich, Ebene, Weg, Hügelkette, Fluss, See, Kirche, Polizeistation, Schule, Gefängnis. - Grenze, dazu konnte ich mir meine Grenzen denken. Ich hatte ja gleich mehrere Grenzen zur Verfügung. Die Zeit türmte sich vor mir, je klarer die Sicht war. Je mehr sie als Fernsicht bezeichnet werden konnte, desto höher die Berge, die ich sah. Meine Menschen nannten mir Zahlen, die Höhe in Metern über dem Meer. Die Anläufe zu meinen Fluchten versandeten oder zerschellten und sind in meiner Vorgeschichte untergegangen.
    Aber eines Tages hielt ich mein Ticket doch in der Hand. Ich war nun schon fast bis zu meinem dritten Siebenjahreszyklus gewachsen und hatte mich schon zum wiederholten Male abgestreift, hatte meine definitive Größe erreicht und würde von nun an wieder zurückwachsen. Doch die schwarzen Löcher trug ich immer noch und immer mehr mit mir herum, zusammen mit der ansteigenden Erinnerung, die sich mit dem Schmerz zusammentat, mich überwältigte und bald zu ihren Schauplätzen abkommandierte, und der Tod war mir zum ersten Mal im Präsens erschienen, in einem Satz im Indikativ, und ich reiste nun schon ohne mein Muttermal und mit einem zusätzlichen Phantomschmerz.
     
    Da bin ich, adsum! Am Ziel. Ich hoffte, es würde doch noch alles ganz anders werden.
    Doch zwanzig Kilometer vor Pico Grande musste ich diese Hoffnung endgültig aufgeben. Seit zweihundertfünfzig Kilometern war mir alles gleich trostlos erschienen, in Staub und Wind war die Maschine aufgeschlagen, mit Mühe noch gelandet. Ich hatte mich mit meinen Sommerhosen dem Wind übergeben. Eine armselige Oberfläche von Hütten, Treibgras und Disteldünen. (Den Himmel hatte ich zunächst übersehen.) Als es keinerlei Hoffnung mehr gab und die Außenbezirke von Pico Grande erreicht waren, Alto Pico Grande (eine Ansammlung von Wellblech) passiert war und sich eine Veränderung nicht einstellte, als ich schließlich das Schild Pico Grande - Provincia de Chubut hinter mir hatte: An dieser Stelle meiner Reise hätte ich weinen können. Doch ich dachte an den Brief, meinen Brief, den ich geschrieben hatte. Meine Hoffnung war nun, der Brief möge noch gar nicht angekommen sein. Wahrscheinlich war er auch noch gar nicht angekommen, denn ich hatte ihn ja erst vor einer Woche abgeschickt und dachte, meinen Onkel zu überraschen. - Und doch hoffte ich, die Nachricht an meinen Onkel, dass ich schon unterwegs sei, auf dem Weg zu ihm, abfangen zu können. Abfangen, an mich nehmen und zerstören. Aber so weit musste ich gar nicht mehr gehen.
    Denn der nächstbeste Mensch, den ich nach Don Antonio fragte, sagte mir: »fallecido«. Was sich wie »gefallen« anhörte, ein Wort, das sich in meiner Sprache schlimm anhörte.
    Er sagte: »fallecido«.
    Endet so eine Auswanderung?
    Ich schaute im Wörterbuch, das ich mit mir führte, nach, denn dieses Wort kannte ich nicht. Da stand es: »fallecido - verschieden.«
    ... Vor ungefähr zwei Wochen
    Mein Don Antonio? Mein Onkel?
    Endet so eine Auswanderung?
     
Mich zerriss es vor Schmerz, dass es mich nicht vor Schmerz zerriss.
     
    »Macht nichts«, dichtete ich, etwas, einen Vers mit »macht nichts« und »c est la vie« in der Mitte, den ich leider vergessen habe. Denn wenn es geblutet, so langsam wieder aufgehört hatte, dichtete ich immer, das war mein Bepanthen, meine Wundsalbe; und dann sollte auch noch ein kleines Heftpflaster helfen, sowie unsere Mutter, ein Mensch, der mir sagte, dass es halb so schlimm ist, war und sein würde, und mir die Haare aus

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