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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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Tochter des von meiner geistlichen Führerin und Päpstin als Gegenstück zum papsttreuen Hitler aufgebauten Stalin, hatte sich bekehrt und flüchtete zum Heiligen Vater. So musste sich auch Mao bekehren, und zwar durch mein Beten und Arbeiten.
    »Bald werde ich achtzehn sein, aber vielleicht komme ich jetzt schon durch die Schleusen«, dachte und sagte ich nicht.
    Ich wollte Flesh sehen. Flesh lief im Kino.
    Ich erklärte Rosa den Film nicht, träumte nur ein wenig im Nachhinein davon, vergegenwärtigte kurz die Handlung, die in einem Arsch gipfelte, ja, aus einem einzigen Arsch bestand, den man (und sonst nichts) eine Viertelstunde lang besichtigen konnte. Deswegen die ganze im Film gezeigte Geschichte eines so gut wie Stummen, dessen Arsch sein ganzes Kapital war. Die Bekehrung Maos lag hinter mir. Und immer kam etwas dazwischen, und es sah so aus, als hätte ich den Plot vergessen.
    Doch die Geschichte hatte ihr Nachspiel. Der Griff ins Regal verfolgte mich. Die Papiertiger des großen Vorsitzenden ließen mir keine Ruhe. Ich musste wiederholt mein »Fürchte dich nicht!« gegen sie schleudern. Nun hörte ich mein Herz ganz nah bei mir, mein Herz schlug im Kopf, der das Zentrum meines Unglücks barg, den Gedanken, dass ich sterblich bin, über den ich nie hinauskam.
     
    Die Mottenkugeln, deren Besorgung meine Reise in die Universitätsstadt nach außen hin rechtfertigen sollten, gab es nicht. Mottenkugeln konnte ich nicht auftreiben. Es hatte keinen Zweck, Rosa auch noch zu erklären, was es mit Mottenkugeln auf sich hatte. Sie war schon mit Maul- und Klauenseuche überfordert, rein sprachlich.
    »Du warst dazu berechtigt!«, flößte mir mein Engel ein. Ich verließ die Buchhandlung mit meinem blutroten Gesicht.
    Zu Hause schloss ich mich ein, die Mao-Bibel in mich hineinzufressen.
    »Jetzt singt er auch noch!«, hörte ich im Schienenbus auf der Rückreise. Ich hatte das festina! (Gott, eile, mir zu helfen!) vor mich hin prosodiert. Meine oralen Automatismen, meine Grimassen waren Gebete. »Rette mich! Libera me!«, betete ich stellvertretend für Mao Tse-tung.
    Hat der einen Sonnenstich?
    So wollte ich es unbedingt schaffen und am Ende bewusstlos wie von Marathon her den Sieg melden und sterbend zusammenbrechen.
    Ich ertrug alles, wie es mir aufgetragen war, Rosa. Schmerz, mein Schmerz, lebendiger Bruder meiner Erinnerung, die, im Gegensatz zu ihm, niemals ein Leben hatte, immer nur eine Geschichte hatte sie.
     
Schöne, kugelsichere Weste
     
    Zum Geburtstag bekam er eine schöne, kugelsichere Weste geschenkt, erzählte mir Meier, der Fahrer, auf dem Weg zum Länderspiel. Ja, im selben Jahr war wieder einmal eine Meisterschaft. Er war ein Nachkomme eines jener Auswanderer, die es nicht geschafft hatten, im Tross meiner Urgroßonkel hier für die nächsten hundert Jahre oder mehr gestrandet.
    Immerhin hatte er den Führerschein geschafft, wie ich annahm, aber ich weiß nicht, ob ein solcher in dieser Gegend überhaupt nötig war. Fahren konnte er auch so. Nebenher erzählte er mir unentwegt dieses und jenes, auf dem Weg nach Bariloche de los Andes, wo Deutschland und Argentinien aufeinanderstießen. Oder war es umgekehrt? Er erzählte, und der Wagen fuhr eigentlich von selbst?
    Der reinste Zufall, dass mein Aufenthalt mit diesem wichtigen Spiel, wie Meier es bezeichnete, zusammenfiel. Unterwegs hoffte ich all jene Tiere zu sehen, von denen ich bisher nur gehört hatte, die schwarzen Schwäne vor allem und die Flamingos in der Lagune von Sarmiento. Dass für Meier alles umsonst war (Fritz bezahlte), beschwingte Meier dermaßen, dass er glaubte, uns dafür auch noch unterhalten zu müssen mit seinen an Haaren herbeigezogenen Sätzen über das Befinden am Ende der Welt, den idiotischen Tod, das vermutete Heimweh der Doctora nach Russland und die Ehe im Allgemeinen.
    Meier war im Streit mit der Doctora auf der Seite von Fritz, als Fahrer und Faktotum hätte er auch nicht viel mehr Möglichkeiten gehabt als ein Hund.
    Draußen vor der Windschutzscheibe, die durch ein Stahlgitter vor Steinschlag geschützt werden sollte, war es die Windschutzscheibe oder waren es wir?, und so alles in Tausende von kleinsten Schwarzweißquadraten einteilte, als wäre die Welt ein Testbild, muss man sich trotz allem etwas so Schönes und Unbeschreibliches dazudenken, wie es der Mensch, der ich war, nie gesehen hatte, es war wie nirgendwo auf der Welt. Vielleicht hätte der Reisende in einem anderen Jahrhundert auch zu Hause noch

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