Einmal durch die Hölle und zurück
Schalltrichter des Stethoskops als Reflexhammer an Dylans Armen und Beinen.
Es macht Spaß, ihm zuzuschauen. Dabei fragt man sich, ob man je etwas so gut beherrschen wird.
McQuillen bohrt den Finger in Dylans Nieren und seine Wirbelsäule. »Du musst an zwei, drei Stellen genäht werden und zur Beobachtung hierbleiben. Ansonsten hast du echt Glück gehabt.« Er kneift Dylan so fest in den Arm, dass der Junge aufschreit.
»Was ist mit der Computertomographie?«, frage ich.
»Was soll damit sein?«, sagt McQuillen.
»Wollen Sie eine durchführen?«
»Dafür sehe ich keinen Grund. Sein Kiefer und beide Jochbögen sind unversehrt – zumindest so weit, dass kein chirurgischer Eingriff in Betracht kommt. Es gibt keine Anzeichen für eine LeFort-Fraktur oder eine Fraktur des Suborbitalknochens. Wir haben ihn auf Kallmann-Syndrom untersucht. Offenbar läuft keine Rückenmarksflüssigkeit aus, das heißt, es dürfte keine Gehirnoperation erforderlich sein. Und was die Hämatome betrifft, so hat dieser Bursche einen ziemlich harten Schädel.« Zu Dylan gewandt, fragt er: »Was tut dir im Moment am meisten weh?«
»Meine Nase«, presst Dylan zwischen den Zähnen hervor.
»Sehen Sie? Wir müssen ihn auf eine Nierenverletzung untersuchen, aber ich habe ein ausgezeichnetes Mikroskop. Man kann jede Menge über einen Patienten sagen, ohne ihn irgendwelchen Strahlen auszusetzen. Im neunzehnten Jahrhundert haben Gynäkologen noch blind operiert.«
»Der Behandlungsstandard dürfte sich seither verändert haben.«
McQuillen lächelt. »Klugscheißer sind einfach unbeliebt, Doktor.«
»Das stimmt, Lionel«, presst Dylan zwischen den Zähnen hervor.
»Und was dich betrifft«, sagt McQuillen, »wenn du weiter Meth rauchst, wirst du nicht mehr lange ein Klugscheißer sein, sondern erst dumm und dann tot.«
»Ich rauche das Zeug nicht.«
»Wirst du aber. Dann wirst du’s dir injizieren. Bevor du gehst, gebe ich dir ein paar saubere Spritzen. Damit du dir nicht auch noch Hep C holst, während du dich mit Methamphetamin umbringst. Ich bin achtundsiebzig und würde es begrüßen, wenn du mich überlebst.«
Dylan verdreht die Augen.
»Und wie steht’s mit einer Halswirbelverletzung?«, frage ich.
»Da mache ich mir keine Sorgen«, sagt McQuillen in der Kurzfassung einer viel längeren Diskussion, die wir danach führen.
»Aber Sie machen doch zumindest eine Röntgenübersicht.«
»Das würde ich doch bloß Ihretwegen tun. Hatten Sie in Ihrer Jugend keine Balgereien?«
»Nicht wirklich.«
»Das überrascht mich nicht. Die Menschen verhalten sich heutzutage nicht mehr wie körperliche Wesen. Wissen Sie, wie hoch bei schweren Kopfverletzungen die Wahrscheinlichkeit einer Subarachnoidalblutung ist?«
»Nein.«
»Fünf bis zehn Prozent. Bei
schweren
Kopfverletzungen. Und eine schnell entstehende Subduralblutung macht sich in den nächsten zwei Stunden bemerkbar. Eine langsam entstehende ist auf CT sowieso noch nicht zu sehen.«
»Und was ist, wenn die Symptome auftreten, während er hier ist? Was wollen Sie dann tun, ihm ein Loch in den Kopf bohren?«
»Ja, genau«, sagt er. »Keine Sorge, Dylan. Dazu wird es nicht kommen. Doktor, Sie sollten sich auch keine Sorgen machen. Wenn es einen Vorteil hat, in dieser Gegend zu praktizieren, dann den, dass man gewöhnlich nicht verklagt wird.«
Ich blicke Dylan ins Gesicht. »Dylan, Dr. McQuillen hält es für richtig, dass du hierbleibst, aber ich gebe dir den Rat, mit mir zur Notaufnahme in Ely zu kommen.«
Darauf sagt Dylan mit immer noch zusammengebissenen Zähnen: »Mann, ich glaube, das haben Sie unmissverständlich klargemacht.«
»Gut«, sagt McQuillen. »Mr Arntz, der schon ungefähr neun Monate vor seiner Geburt mein Patient war, hat sich entschieden, es vorläufig dabei zu belassen.« Zu Dylan gewandt, fügt er hinzu: »All das fußt natürlich auf deiner Bereitschaft, zur Beobachtung hierzubleiben. Meinst du, du hältst es zwei Stunden ohne Meth aus?«
»Ich hab mir nur ein einziges Mal Meth reingezogen«, erwidert Dylan.
»Was ist aus dem zweiten Mal geworden?«, frage ich.
»Vielen Dank, Lionel«, sagt Dylan. »Aber ich werde eine Zigarette brauchen.«
»Auch darauf musst du verzichten«, erklärt McQuillen. »Abgemacht?«
»Ja«, sagt Dylan.
»Wären Sie so nett, ihn zu nähen, während ich seinen Harn untersuche?«, fragt mich McQuillen. »Mikroskopie stand bei Ihrem Medizinstudium vermutlich nicht oft auf dem Lehrplan.«
Er hat richtig vermutet.
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