Einmal durch die Hölle und zurück
Morgen mit den Ottern erzählt.
Anlage H: Xinjiekou-Süd-Strasse, Peking-Universität Peking
Mittwoch, 17 . Mai 1989 [61]
Wild Thing
– die Troggs-Version. Teng Wenshu legt das Stück auf den ersten Plattenteller und dreht die Lautstärke auf, während Link Wray zu Ende geht.
Wild Thing
abzuspielen, ist lästig, weil man zwei Minuten und vierunddreißig Sekunden später wieder was anderes auflegen muss, aber es kommt ihm passend vor. Die Welt hat den verdammten Verstand verloren.
Die heutige Ausgabe der
Volkszeitung
liegt aufgeschlagen auf dem Mischpult, und wenn Teng nicht träumt, ist sie voller Fotos von den Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz. Er betrachtet ein doppelseitiges Foto, auf dem Studenten der Zentralen Akademie eine zehn Meter hohe Freiheitsstatue gegenüber vom Mao-Porträt über der Wai Jinshui-Brücke aufstellen.
Ergänzt werden die Fotos durch Artikel, die schildern, was für ein übler Mistkerl Mao war, und sich durch die gesamte umfangreiche Ausgabe ziehen. Der Artikel über den Großen Sprung nach vorn, den sich Teng gerade ansieht, trägt die Schlagzeile »Dreißig Millionen verhungert«.
Für Teng, dessen Eltern vor der Kulturrevolution in Peking Theaterschauspieler und danach Subsistenzarbeiter in einer Fernseherfabrik in Xiaoqiang waren und mit Glück überlebt hatten, ist die Tatsache, dass Mao ein übler Mistkerl war, nichts Neues. Auch nicht die Tatsache, dass in Peking Studenten demonstrieren oder der Rest der Stadt sie unterstützt. Der Tiananmen-Platz liegt sechs Kilometer südlich von hier. Seine Zimmergenossen sind jeden Tag dort.
Aber dass die
Volkszeitung
so was zugibt? Sie ist die offizielle Zeitung der Kommunistischen Partei. Allein in China erscheint sie in sechshundertfünfzig Großstädten, und auf der ganzen Welt kommen wahrscheinlich noch mal halb so viele hinzu. Und gestern hätte man sie von vorn bis hinten durchlesen können, ohne eine Ahnung davon zu bekommen, dass die Demonstrationen – oder die letzten vierzig Jahre – je stattgefunden haben. Oder dass Mao etwas anderes als ein Gott war.
Und es ist ja nicht so, dass die Demokratiebewegung die
Volkszeitung
irgendwie übernommen hat. Diese Ausgabe wurde so von der Partei zugelassen. Das heißt, die Partei glaubt, schon verloren zu haben. Und das heißt, sie hat schon verloren.
Das schafft interessante Möglichkeiten.
Bisher hat sich Teng schön vom Tiananmen-Platz ferngehalten. Dass seine Zimmergenossen, deren Väter alle Parteimitglieder sind, dort hingehen und bei ihrer Rückkehr von der Begeisterung, von den Leuten, die ihnen Essen bringen, und von den Revolutionärinnen schwärmen, mit denen sie Seite an Seite in Zelten aus Seidentüchern schlafen, dass sie über das Himmlische Tor reden [62] , ist die eine Sache. Etwas anderes ist es, wenn sich Teng an dem Spiel beteiligt.
Die Möglichkeit, dass Teng eines Tages Anwalt und Parteimitglied wird, ist die einzige Hoffnung seiner Familie. Seine Eltern in Xiaoqiang sind gebrochene Menschen. Sein älterer Bruder, der zur Welt kam, als das verfallende zentrale Kraftwerk der Stadt noch Kohlenasche auf die Straßen herabschneien ließ, hat die geistigen Fähigkeiten eines Achtjährigen. Teng, der zweieinhalb Jahre später geboren wurde – und anderthalb Jahre nach Inbetriebnahme des volkseigenen Wasserkraftwerks von Sanjiangyuan, als in Xiaoqiang plötzlich viel weniger Babys zur Welt kamen, die so aussahen wie sein Bruder –, ist seinen Eltern etwas schuldig.
Und es ist nicht so, als hätte er keine Risiken auf sich genommen. Seit einem Jahr spielt er jeden Morgen in einem Radiosender, den er selbst wieder eingerichtet hat, Musik, die leicht an die amerikanische Bürgerrechtsbewegung erinnert. Zugegeben, die Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung war zugleich die Zeit Maos, und er spielt die harmlosesten Langweilersongs von damals, die er finden kann. Außerdem war es für jemanden, der buchstäblich in einer Fernseherfabrik geboren wurde, keine große Herausforderung, die Röhren einer RCA 1 -K Standard-Sendestation auszutauschen. Zumindest nach Inbetriebnahme des volkseigenen Wasserkraftwerks von Sanjiangyuan. Doch manche Leute sind schon wegen geringerer Vergehen auf schwarzen Listen gelandet.
Und der Tiananmen-Platz ist ein klassischer Flop mit schlimmer Vergangenheit. Der Platz wurde von Kaiser Yongle erbaut, Herrgott noch mal. [63] Sogar Deng Xiaoping wurde dort in seiner Studentenzeit mal verhaftet.
Trotzdem ersteht vor Tengs
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