Einmal durch die Hölle und zurück
Er hält etwas in der Hand, als wollte er kugelstoßen.
»Jetzt sehe ich ihn«, sage ich.
»Kannst du sein Gesicht erkennen?«
»Nein. Er steht auf der anderen Seite des Bootes und kehrt uns den Rücken zu.« Und außerdem trägt er genau wie Violet und ich und wahrscheinlich auch alle anderen, die zur Zeit in Minnesota auf den Beinen sind, einen Anorak mit Kapuze. Wenigstens wissen wir, was er gerade hört: die Regentropfen, die auf seine Kapuze fallen.
Ich suche mit dem Nachtsichtgerät noch mal den Strand ab und reiche es Violet.
»Jetzt hängt er was an einen großen Haken, der mit einer Leine an dem Ding befestigt ist, das über die Bootswand ragt«, sagt sie kurz darauf. »Ich glaube, es ist ein Stück Fleisch.«
Wenig später höre ich trotz des prasselnden Regens den Motor der Winde. Er ist lauter als der Elektroaußenborder.
Nach einer Weile reicht mir Violet das Nachtsichtgerät zurück, und ich sehe, wie sich der Mann aufrichtet und zu uns umdreht.
An der Stelle, wo sein Gesicht sein müsste, leuchtet ein greller Lichtstrahl.
»Scheiße!«, sage ich und stopfe die Vorderseite des Nachtsichtgerätes in meine Jacke. Aber ich weiß, dass es zu spät war.
»Was ist?«
Ohne das Nachtsichtgerät herrscht dort draußen nur Finsternis. Das Licht, das vom Gesicht des Typen ausstrahlt, ist nicht zu sehen.
»Er trägt eine aktive Infrarotbrille«, sage ich. »Dieselbe Technik, die wir benutzen. Er kann das Licht sehen, das unser Nachtsichtgerät ausstrahlt.«
»Und kann er …?«
»Ja. Wahrscheinlich sieht er uns gerade an.« Ich halte das Nachtsichtgerät wieder ans Auge.
Er starrt uns direkt an, sein Gesicht immer noch grell wie ein Leuchtturm. Aber jetzt hält er ein Gewehr in der Hand.
Ein Classic Remington 700 , mit großem Zielfernrohr und Regenschutz. Ich behaupte zwar nicht, dass Chris junior und Pfarrer Podominick mit diesem Gewehr erschossen wurden, aber so ein ähnliches war es eindeutig.
Das ist offenbar der Moment, in dem wieder auf uns geschossen wird. Wenn das Gewehr ein Nachtsicht-Zielfernrohr hat, dann wird der Lauf zum Wald, bei dem sich unsere Silhouetten auf der kahlen Felswand abzeichnen, ein langes Vergnügen. Vermutlich wäre es sinnvoller, in den See zu springen und zu dem Boot zu schwimmen, während Violet so lange wie möglich unter Wasser bleibt.
Doch der Mann legt das Gewehr nicht an. Er hält es bloß vor dem Körper, als wollte er es mir zeigen oder als wäre er unschlüssig. Dann wirft er es vorn ins Boot und geht in die andere Richtung, um den großen Motor runterzuklappen.
»Was macht er?«, fragt Violet.
Ich gebe ihr das Nachtsichtgerät. »Er macht sich aus dem Staub.«
In der schmalen Schlucht klingt der Benzinmotor wie eine Harley. Ein tiefes Tuckern, das auch noch zu hören ist, als sich andere, höhere Töne darüberlegen, das Boot scharf wendet und, die Leine mit dem Haken hinter sich herziehend, davonfährt.
Als plötzlich eine Taschenlampe aufleuchtet und die anderen den Strand entlangkommen, ist das Boot schon hinter der nächsten Biegung verschwunden.
»Was zum Teufel war das?«, fragt Reggie.
»Auf dem See ist ein Boot«, sagt Violet.
Sein Kielwasser schwappt noch in unsere Schuhe.
26 Lake Garner/White Lake Boundary Waters-Kanugebiet, Minnesota
Immer noch Donnerstag, 20 . September
»Blödsinn«, sagt Violet.
»Genau so war’s.«
Wir liegen in unseren Schlafsäcken auf dem Rücken. Ich habe ihr gerade von meiner Unterhaltung mit Palin erzählt.
»Die ist doch bekloppt«, sagt Violet.
»Wieso? Bloß weil sie meint, ein einzelner Chromosomensatz sei dasselbe wie eine einsträngige DNA , obwohl ihr Vater Naturwissenschaftler war?«
»Ihr Vater hat Seehunde abgepasst, die zum Luftholen nach oben kamen, und sie in den Kopf geschossen.«
»Vielleicht dachte er, sie wären der Antichrist. Und woher weißt du das?«
»Woher weißt du von Westwood Soundso?«, fragt sie zurück.
»Westbrook Pegler. Der war mal berühmt.«
»Und jetzt ist
sie
berühmt. Reich und berühmt. Weil sie den Leuten genau das sagt, was sie hören wollen, und sei es noch so destruktiv. Wenn es einen Antichrist gibt, dann wird sie das sein. Sie ist der totale Opportunist.«
»An
das hier
glaubt sie aber wohl.«
»Wahrscheinlich. Die Welt krankt nicht an menschlicher Unvernunft. Sie krankt an den Menschen, die ihre Unvernunft ein- und ausschalten können, je nachdem, was es ihnen bringt.«
»Was soll es ihr denn bringen, wenn sie
daran
glaubt?«
»Abgesehen von dem,
Weitere Kostenlose Bücher