Einmal durch die Hölle und zurück
könnte.
»Ich weiß nicht genau«, sage ich. »Das ist ein
eta
, das lange ›E‹ im Griechischen. Der Name Jesus wird in der griechischen Bibel mit IHS abgekürzt, weil das seine drei ersten Buchstaben sind.«
Noch ehe ich ausgeredet habe, tut Palin das schon mit einem Schulterzucken ab. »Könnte sein, aber wissen Sie, was ›haploid‹ bedeutet?«
Leider ja. »Es bedeutet, dass etwas nur einen einfachen Chromosomensatz hat, wie ein Spermium oder ein Ei.«
Sie nickt.
»Sie wollen behaupten, Jesus hat nur einen einfachen Chromosomensatz?«
Sie fasst mich am Arm. »Ja. Weil er zur Hälfte Maria ist und zur Hälfte Gott. Und Gott
hat
keine Chromosomen. Deshalb ist Jesus das Bindeglied zwischen der Menschenwelt und dem Himmel. Und darum musste er für seine Zeit auf der Erde eine provisorische Seele haben, die wir den Heiligen Geist nennen. Aber jetzt kommt’s.«
Ich warte mit dem nicht unangenehmen Gefühl darauf, dass es alles sein könnte. Zum Beispiel eine Gummiente.
»Wo ist die andere Hälfte der DNA ? Der Strang, der zu diesem hier passt?«
»Keine Ahnung.«
»Er ist das Gegenteil.«
»Okay.«
»Wer hat ihn?«
»Das weiß ich immer noch nicht.«
»Der andere.«
»Der andere?«
»Deshalb wird er der
Anti
-Christ genannt. Sie wissen, von wem ich rede.«
»Vom Teufel?«
»Von dem Tier.« Sie deutet auf die Spirale, die sie gezeichnet hat. »Sehen Sie? Warum, glauben Sie, sieht das so aus?«
»Sie meinen, wie eine Schlange?«
»Wir sind fast an dem Punkt angelangt, an dem sich Menschen durchs Klonen wiedererschaffen können. Das heißt, dass sie nur einen einzigen DNA -Strang brauchen statt einen von jedem Elternteil. Und sie glauben, das macht sie unsterblich. Aber es ist die falsche Unsterblichkeit, denn es bedeutet bloß, dass niemand ins Himmelreich kommt. Weil der Baum der Erkenntnis nicht der Baum des Lebens sein darf.«
»Klonen?«, frage ich.
»Doch wir werden das nicht zulassen. Sie und ich. Und wissen Sie was? Wir sind dazu ausersehen.«
Ich sehe sie an. Das »wir« gibt der Sache einen neuen Dreh.
»Wozu denn?«, frage ich.
»Es zu töten.«
»Ein Stück DNA zu töten?«
»Das Tier zu töten.«
Sie stellt sich auf die Zehen, nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich. Fest und unerotisch, wie eine Begrüßung zwischen Hooligans in einem europäischen Land, das man noch nie besucht hat.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagt sie. Als sie einen Schritt zurücktritt, sieht sie etwas am Rand ihres Blickfelds und dreht sich um.
Es ist Violet Hurst, die uns anstarrt. Palins Bodyguard ziemlich verlegen hinter ihr.
Palin schlägt die Hände vors Gesicht und läuft mit den Worten »Es ist nicht so, wie es aussieht, ganz und gar nicht!« zum Lager zurück.
»Ist mir völlig egal, ganz und gar!«, ruft ihr Violet nach.
»Sie hat recht«, sage ich.
»Das geht mir sonstwo vorbei. Ganz im Ernst. Ich hab bloß nach dir gesucht, um zu fragen, ob du Bell entdeckt hast. Anscheinend nicht. Danke fürs Suchen.«
25 Lake Garner/White Lake Boundary Waters-Kanugebiet, Minnesota
Donnerstag, 20 . September
Nachts um halb vier habe ich die schweißtreibende Hitze in meinem Schlafsack satt und beschließe aufzustehen. Violet kehrt mir immer noch den Rücken zu.
Draußen im Schwarz-Weiß-Fernseher-Mondschein herrscht dichter Bodennebel, wie ich ihn nur aus Diskos oder Vampirfilmen kenne. Er liegt über dem ganzen Lager und dem Lake Garner, verströmt von der warmen Erde und vom Wasser. Der Mond ist wieder eine schmale Sichel, wie bei meinem Gespräch mit Reggie auf seiner Veranda. Aber jetzt zeigt er wohl in die andere Richtung, falls das beim Mond so abläuft.
Ich höre leise Stimmen und sehe auf der anderen Seite des Zeltplatzes rote Glut, also schleiche ich mich zum Spaß an Reggie und einem von Palins Sicherheitsleuten vorbei, die darüber diskutieren, warum Waschbären die einzigen wirklich reinlichen Tiere sind.
»Und warum heißt der Thunfisch Thun
fisch
?«, fragt der Bodyguard.
»Sie haben recht, Junge«, sagt Reggie. »Es gibt ja auch keine Thunvögel.«
Nur der Ordnung halber: Ich habe nicht gesehen, dass der Typ an Reggies Joint zieht.
Kurz bevor ich den Wald betrete, sehe ich noch jemand anderen und will mich schon auf den Boden werfen, doch es ist bloß einer von Wayne Tengs Bodyguards, der mich kommentarlos beobachtet.
Als ich auf der Landzunge stehe, die sich wie ein Arm in den von beiden Seen aufsteigenden Nebel streckt, beginnt es wieder zu nieseln.
Weitere Kostenlose Bücher