Einmal Hochzeit und zurück
getrunken hatten und bewusstlos geworden waren. Erst ein Jahr vorher hatte ich aufgehört, meine i‘s mit Kringeln zu verzieren. Und je mehr ich in dem Buch vor- und zurückblätterte, desto klarer erkannte ich die Wahrheit. Es war damals so gewesen, und es war auch jetzt noch so.
Ich war noch Jungfrau. Klar war ich das. Ich war ja gerade erst sechzehn geworden. Es war bloß - es versetzte mir einen kleinen unerwarteten Stich, ich wusste nicht, warum. Es war echt komisch. Mit dem Phänomen, eine Jungfrau zu sein, hatte ich mich schon lange nicht mehr auseinander gesetzt, schon gar nicht als etwas, wogegen man auf geopolitischer Ebene vorgehen musste.
Sobald ich daheim ausgezogen war - aus diesem zunehmend trostlosen, verschlossenen Haus, in das sich mein Zuhause verwandelt hatte, nachdem mein Dad gegangen war -, hatte ich mich ihrer so schnell wie menschenmöglich entledigt. Ein stupides Gefummel, ein ätzendes, feuchtes und peinliches Erlebnis.
Die Dinge hatten sich natürlich langsam zum Besseren gewendet, und ein romantisches Highlight ist das erste Mal wohl für kaum jemanden, aber ich spürte die Hoffnungen und Träume, die in diesem Buch steckten, und ich drückte es nachdenklich ganz fest an meine kleine Brust.
»Du hast ja keine Ahnung«, flüsterte ich ihm zu. »Tja, nimm nicht einfach nolens volens Einladungen zu College-Bällen an.«
»War wirklich schön, Felipe auf dem Schulhof zu küssen. Wir haben uns vier Stunden und achtundzwanzig Minuten lang geküsst.«
Okay, das war ein Eintrag aus dem letzten Jahr, aber er beeindruckte mich nichtsdestotrotz. Wann hatte ich das letzte Mal nennenswert rumgeknutscht? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich meine, Olly und ich küssten uns doch, oder? Na ja, auf die Lippen, wenn wir uns sahen, was man eigentlich nicht als Knutschen bezeichnen konnte, und wohl auch im Bett, aber das zählte auch nicht so richtig.
Aber eigentlich ist Knutschen doch typisch Teenie, oder? Deshalb haben die auch dauernd Mandelentzündungen.
»Ich hasse die Arbeit im Supermarkt. Mrs. Bentall ist eine fiese gemeine Zimtzicke. Es ist so unfair. Stanzi kriegt einfach Taschengeld von ihren Eltern und zusätzlich Geld für Klamotten. Es ist einfach nicht fair. Wenn Dad mal gelegentlich zu Hause wäre, würde ich vielleicht auch Geld für Klamotten kriegen.«
O Mann, was für ein Jammerlappen. Ich schaute auf das verdrießliche Leben, das ich in den Händen hielt. Dieses Mädel befand sich auf der gleichen Flugbahn wie ich.
Mein Handy piepste. Ich stürzte mich darauf. Es war eine SMS.
»Ganze Welt am Arsch«, stand da. Gott sei Dank hatte Tashy die SMS-Sprache auch noch nicht gelernt. »Hole dich morgen zu Fluchtversuch ab.«
6. Kapitel
Gott, war ich froh, dass es Tashy gab. Schlafen konnte ich nicht. Als ich die Titelmelodie der Spätnachrichten aus dem Wohnzimmer hörte, rollte ich mich im Bett zu einer kleinen Kugel zusammen, aber die ganze Nacht hindurch wachte ich immer wieder ruckartig auf, das bescheuerte Tagebuch fest umklammert. Ich hatte Tashy ganz früh im Morgengrauen eine SMS geschickt und mich ein Stück weiter die Straße hinunter mit ihr getroffen, nachdem ich mich in echter Teenagermanier aus dem Haus geschlichen hatte. Im Coop-Supermarkt würde ich einfach kündigen. Mum ging da sowieso nie hin. Die dachte, das sei der Supermarkt des kommunistischen Russland.
Tashy saß hinter dem Steuer ihres kleinen Audi. Sie zog die Augenbrauen hoch, als sie mich sah, und erst da ging mir auf, dass mein Ensemble aus Minirock und gestreiftem Pullover, das ich ohne langes Nachdenken aus dem Schrank gezerrt hatte, für einen Samstagmorgen vielleicht etwas zu schrill sein könnte.
»Was?«, fragte ich mürrisch, obwohl ich so erleichtert war, dass sie da war - ich hätte platzen können.
»Nichts«, sagte sie, als ich einstieg. »Du bist bloß so winzig. Lass mich mal kurz deine Oberarme anfassen.«
»Lass das.«
Mit einem Finger schob sie die Haut unter meinen Augen nach oben. »So, siehst du. So wirst du in sechzehn Jahren aussehen. Scheiße, du hast noch so viel Zeit.«
Während Tashy das Auto vom Bordstein wegmanövrierte, betrachtete ich mich im Autofenster. Sie hatte Recht: Da, wo nicht gerade Pickel sprossen, war meine Haut rosig wie ein reifer Pfirsich. Aber ich sah auch weniger aus wie ich selbst. Nur von meinem Aussehen konnte ich nicht beurteilen, was für ein Mensch ich war. Ein unbeschriebenes Blatt, ja klar. Mein Gesicht wirkte, als sei es noch nicht ganz
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