Einmal Paradies und zurück
Bildschirm. Das Kinn in die Hand gestützt, starrt sie es an. Nebenbei bemerkt handelt es sich um einen ziemlich schrecklichen Schnappschuss, der bei unserer gemeinsamen InterRail-Tour nach dem College-Abschluss entstanden ist. Eine dieser völlig komfortfreien Europatouren, die man als Student so gerne macht. Wenn ich jetzt daran denke, mit wie wenig wir damals zufrieden waren, bin ich auf Reisen jedes Mal von kindlicher Freude erfüllt, dass ich ein Zimmer mit eigenem Bad und funktionierendem Klo und genügend Klopapier habe.
Gleich in der ersten Woche wurde uns das Geld knapp, und wir ernährten uns nur noch von Baguette, Bananen und Bier. Wo es ging, duschten wir auf dem Bahnhof. Glaubt mir, das sieht man dem Foto auch an – ich bin ungewaschen, und meine Haare strotzen vor Fett, während Fiona völlig normal wirkt, nur ein bisschen dünner. Na ja, ihre Nase ist rot und schält sich, aber abgesehen davon und dass sie jetzt Kontaktlinsen anstelle der dicken Eulenbrille trägt, hat sie sich echt kaum verändert: Die gleichen großen hoffnungsvollen Augen, der gleiche exakte blonde Bob, die gleichen fließenden Kleider und Rüschenblusen, und außerdem ist sie so zierlich, dass die meisten ihrer Schülerinnen sie überragen und älter aussehen. Wir lachen oft darüber, dass sogar die Queen ihren Look öfter verändert hat als sie, aber Fiona hält sehr stark an der Überzeugung fest: »Was nicht kaputt ist, muss auch nicht repariert werden.« Und bei Klamotten war es ihr schon immer wichtiger, dass sie bequem sind. Ob sie topmodisch sind, hat höchstens zweite Priorität.
Es gibt auch noch einen anderen Grund, warum mir diese InterRail-Tour in Erinnerung geblieben ist, aber darüber später mehr.
Wenn man Fiona so sieht und auch noch mit einberechnet, dass sie Lehrerin ist, kann man leicht zu der irrigen Annahme kommen, dass sie ein bisschen konservativ ist, auf so eine nette, altmodisch mädchenhafte Art. Großer Irrtum. Als ich Fiona kennengelernt habe, war sie nicht nur die ausgeflippteste Person, die ich kannte, sondern auch die ausgeflippteste Person, die überhaupt jemand aus meinem Bekanntenkreis kannte. Sie hätte James beim Partymachen ernsthaft Konkurrenz gemacht, obwohl man auf den ersten Blick überhaupt nicht auf die Idee gekommen wäre – sie war ein ähnliches Phänomen wie Batman/Bruce Wayne. Tagsüber führte sie ein normales, unauffälliges Leben, aber nachts trank sie ihre Mitmenschen unter den Tisch, ohne mit der Wimper zu zucken.
Die Moral der Geschichte: Der Schein trügt, vor allem, wenn er Blümchenkleider trägt.
Aber irgendwann hat sich viel verändert. Als sie nach dem Examen einen Teilzeitjob am Loreto College bekam, hielt sie nebenbei noch ein beträchtliches Maß ihrer bisherigen Ausgeflipptheit aufrecht – das heißt, sie ließ keinen Freitag- oder Samstagabend verstreichen, ohne ordentlich zu feiern. Für gewöhnlich landete sie irgendwann im
Renards
, und einmal brachte der arme, übernächtigte Besitzer des Pubs sie um sieben Uhr morgens nach Hause, vermutlich weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass er sie so am schnellsten loswurde und selbst endlich ins Bett konnte. Nicht lange danach bekam sie eine volle Stelle, und seither ist alles anders – Fiona hat zwar genug Geld, aber nie genug Zeit. Anfangs hab ich für sie noch Kinokarten geschnorrt oder sie zu James’ Premieren mitgeschleppt, aber danach ist sie immer so früh wie möglich verschwunden, weil sie bis zum nächsten Tag noch einen Berg Aufsätze zu korrigieren hatte oder irgendein zeitaufwändiges Schulprojekt vorbereiten musste. Es dauerte nicht lange, bis sie überhaupt nicht mehr ausging und behauptete, es wäre die reinste Zeitverschwendung, und sie würde außerdem im Internet wesentlich mehr Typen kennenlernen als jemals in Clubs, Pubs und Bars. Natürlich war das ein ständiger Streitpunkt zwischen uns, aber damals habe ich mir noch keine großen Sorgen gemacht, weil ich zu wissen glaubte, dass der Hauptgrund für ihren Rückzug zu Lasten eines gewissen Tim Keating ging.
Okay, das sollte ich wahrscheinlich etwas genauer erklären. Tim war Fionas erste große Liebe, ihr erster richtiger Freund, mit dem sie vom zweiten College-Jahr an zusammen war, und man hätte sich kaum ein Paar vorstellen können, das besser zusammenpasste. Es passiert eben nicht sehr oft, dass man einem echten Seelenverwandten begegnet, aber die beiden waren goldrichtig füreinander. Tim war genauso ausgeflippt wie Fiona,
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