Einmal Paradies und zurück
spüren keinen Schmerz, der redet absoluten Schwachsinn.
»Charlotte, wenn ich aus dem, was dir passiert ist, irgendwas gelernt habe, dann, dass das Leben kurz ist. Ich muss rausgehen.
Carpe diem.
«
Wieder ein hastiger Blick über die Schulter, ob sie wirklich noch allein im Lehrerzimmer ist – denn sonst müsste sie damit rechnen eingeliefert zu werden, wenn sie sich mit einem Foto unterhält.
»Und ich weiß, dass du dieses ganze Internetdating doof findest …«, murmelt sie.
»Es ist weniger, dass ich es doof finde, Süße, ich kann nur nicht daran glauben, dass man Liebe aus dem Netz runterladen kann. Es ist so eine Zeitverschwendung, und wenn ich aus meinem Unfall etwas gelernt habe, dann, dass wir KEINE Zeit zu verschwenden haben. Nicht mal eine Sekunde.«
»… aber ich kann mir nichts anderes vorstellen, womit ich diese Leere füllen soll, die du in meinem Leben hinterlassen hast. Wenn man richtig drüber nachdenkt, ist indirekt alles deine Schuld.«
»Ach, komm schon, ich hab mir auch nicht gewünscht, mit achtundzwanzig zu sterben.«
»Du weißt, wie es bei mir aussieht, Charlotte. Ich bin einfach zu kaputt, um abends noch rauszugehen und mich in die Club- und Pubszene zu stürzen. Deshalb bleibt mir nur dieser eine Weg, um einen potentiellen Partner kennenzulernen. Ob es dir gefällt oder nicht, die Internetdating-Sites sind das moderne Äquivalent der Tanzhallen aus den Fünfzigern.«
Ehrlich, das wäre doch mal ein gutes Aufsatzthema.
»Schau her«, fährt sie mit ihrer Lehrerinnenstimme fort, nur nicht ganz so laut wie im Klassenraum, weil sie ja mit sich selbst spricht, und wendet sich wieder ihrem Laptop zu. »Lass mich dir zeigen, was da draußen im Netz los ist, und ich versuch auch eine kleine Übersetzung aus Mannsprech ins Englische.«
»Ich bin direkt neben dir, Süße, und versuche mein Bestes, tolerant zu sein, aber es ist eine Art Elendstourismus, durch diese ganzen Profile zu waten!«
»Wenn ein Kerl, wie beispielsweise dieser hier, sich als ›humorvoll‹ beschreibt, bedeutet das mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass er nervt. ›Abenteuerlustig‹ heißt, er besäuft sich gern. ›New Age‹ übersetzt man am besten mit ›behaart, ungewaschen und leicht müffelnd‹, ›eigenwillig‹ ist ein Synonym für streitlustig. Unter ›macht gerne Party‹ hat man zu verstehen, dass der Betreffende Alkoholiker ist, und dieser hier«, fährt sie fort und tippt mit dem Kuli auf den Bildschirm, »dieser hier bezeichnet sich als ›verschmust‹, was nichts anderes bedeutet, als dass er übergewichtig ist.«
»Das hört sich nach einer ziemlich albernen Kommunikationsmethode an.«
»Ehrlich, wenn du die Jungs in Fleisch und Blut kennenlernst, deren Profil du gelesen hast … manche von denen könnten sogar Heather Mills noch etwas über Selbsttäuschung beibringen. Aber dafür sind meine Erwartungen extrem niedrig. Wenn du mich fragst, bestehen Beziehungen zu einem Prozent aus Romantik, dazu kommen vierzig Prozent Ärger, wenn man enttäuscht wird …«
»Und neunundfünfzig Prozent Socken von der Heizung zu klauben«, vollende ich den Satz für sie.
Natürlich kriege ich darauf keine Reaktion von ihr.
»Aber …« Sie scrollt ein Stück herunter und klickt auf ein anderes Profil.
»… hallo … der hier macht einen ganz vielversprechenden Eindruck.«
»Vielversprechend? Ist das nicht ein Lehrercode, den man bei schlechten Schülern unter die Arbeit schreibt, wenn sie sich wenigstens bemühen? Vor allem, wenn man weiß, dass ihre Eltern sie umbringen, wenn sie mit einer schlechteren Note als einer Drei minus nach Hause kommen.«
»Ein Hundebesitzer«, grübelt sie versonnen. »Das heißt, er ist zu einer emotionalen Beziehung mit einem Lebewesen fähig, was als sehr gutes Zeichen interpretiert werden kann.«
Sie fängt an, persönliche Details über sich einzugeben. Unter der Rubrik »Alter« unterschlägt sie allerdings drei Jahre, und bei Beruf gibt sie »Personaltrainerin« ein.
»Du Lügnerin!«
»Du brauchst gar nicht da zu hocken und dein Urteil über mich zu fällen«, murmelt sie meinem Foto zu, und ich denke, dass meine Freundin vielleicht doch eine hellseherische Gabe hat, die bisher keiner von uns bemerkt hat.
Jedenfalls scheint sie meine Nähe zu spüren.
»Das ist bloß ein Köder, weiter nichts. Wenn die denken, ich hänge den ganzen Tag in meinem hautengen Gymnastikoutfit im Fitnessstudio rum, kriege ich im Durchschnitt fünfzig Prozent mehr Zuschriften,
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