Einmal Paradies und zurück
besaß einen hinreißenden Barack-Obama-/ JFK -Charme, und man konnte sich mit ihm hervorragend amüsieren. Genau wie Fiona wirkte auch Tim auf den ersten Blick vollkommen alltäglich, aber man brauchte nur an der Oberfläche zu kratzen, schon kam die Verrücktheit zum Vorschein. Tim war Fan von The Clash, The Cure und den Sex Pistols und galt auf dem College als Legende, weil er die irrsten Dinger abzog. Einmal war er in den Kostümfundus der Theatergruppe eingebrochen und zog als Nonne verkleidet mit seinen Freunden um die Häuser. Ein andermal schlief er nach einer durchzechten Nacht auf dem Sofa eines Freunds und erschien am nächsten Tag mit zwei großen Wassergläsern zur Vorlesung, in denen seine Kontraktlinsen herumschwammen. Mein Gott, es war sogar ein Abenteuer, mit ihm und Fiona oben im Doppeldeckerbus zu sitzen.
Nach dem Examen bekam Tim einen guten Job bei einer Pharmafirma in London und musste umziehen. Eine Weile versuchten Fiona und er es zwar mit einer Fernbeziehung, was sie dank preiswerter Ryanair-Flüge und Skype auch eine ganze Weile durchhielten, aber irgendwann funktionierte es nicht mehr richtig. Sie blieben zwar Freunde, kamen aber beide zum Schluss, dass es besser war, für eine Weile getrennte Wege zu gehen.
Die InterRail-Tour ist auch deshalb so fest in meinem Gedächtnis verankert, weil sie direkt nach dieser großen Trennung stattfand, und ich weiß noch, dass ich über Fionas gute Stimmung staunte. »Was wollte ich denn überhaupt von ihm – ihn heiraten?«, antwortete sie achselzuckend, wenn ich doch mal meinen Mut zusammennahm und mich behutsam nach ihrem Befinden erkundigte – für gewöhnlich nach ein paar preiswerten DDR -Bierchen, denn etwas anderes konnten wir uns nicht leisten. »Scheiße nochmal, Charlotte, ich bin einundzwanzig. Wer heiratet denn mit einundzwanzig? Cousins und Internetbräute, sonst niemand.«
Jedenfalls sickerte bereits kurze Zeit nach der Trennung die skandalöse Nachricht durch, dass Tim sich mit einem irischen Mädchens namens Ayesha verlobt hatte. Die beiden hatten sich in London kennengelernt, und Ayesha machte irgendeine Ausbildung beim Fernsehen, mit dem Ziel, Sprecherin bei den Sechsuhrnachrichten zu werden. Als wir sie dann irgendwann kennenlernten, stellten Fiona und ich uns vor, wir würden einer hochintelligenten, mit allen Wassern gewaschenen Journalistin begegnen. Aber nichts dergleichen. Ayesha entpuppte sich als Selbstbräuner-Blondine, die auf der katholischen Mount-Anville-Schule gewesen war und mit viel Mühe Irisch gelernt hatte, weil sie glaubte, damit ihre Fernsehkarriere vorantreiben zu können. Natürlich gefiel es ihr ganz und gar nicht, dass ihr Verlobter sich mit seiner Exfreundin so gut verstand. Trotzdem wurden Fiona und ich zur Hochzeit eingeladen, und ich staunte nicht schlecht, als Fiona beim Hochzeitsempfang ganz cool »Evergreen« von Barbra Streisand zum Besten gab. Also, ich kann euch sagen – wenn eine Frau das fertigbringt, obwohl die Braut ihres Exfreunds sie mit Blicken durchbohrt, hat sie der Welt hinlänglich bewiesen, dass sie über ihn hinweg ist.
Und genau darin liegt meine Sorge begründet. Ich denke oft, dass Fiona und ich zu der Zeit, als sie sich von Tim getrennt hat, beide noch viel zu jung waren, um zu erkennen, was für einen seltenen Diamanten sie da in Händen hielt. Und wer weiß? Vielleicht hat die Beziehung zu Tim die Latte für Fiona einfach zu hoch gelegt, und das macht es jetzt schwer für sie, einen anderen zu finden. Mit einundzwanzig glaubt man, dass die Tim Keatings dieser Welt auf den Bäumen wachsen.
Jedenfalls haben die beiden sich nicht lange nach der Hochzeit aus den Augen verloren. Wie es halt so geht. Aber wir hatten beide den Verdacht, dass Tims neue Frau dahintersteckte. Unserer Meinung nach sorgte sie gezielt dafür, dass die Freundschaft der beiden nach und nach zu einer Bekanntschaft abkühlte, mit der man gerade noch Weihnachtskarten austauschte.
Gelegentlich hörten wir Neuigkeiten aus der Gerüchteküche: Sie wohnen wieder in Irland. Tim hat den Job gewechselt, er arbeitet jetzt für Repak und berechnet CO 2 -Bilanzen. Tim und Ayesha haben Zwillinge bekommen. Aber, wie ich immer zu Fiona sage, man hört nie das, was man hören möchte, was in diesem Fall gewesen wäre: Tim hat endlich begriffen, dass Fiona die Liebe seines Lebens ist, hat eingesehen, was für ein Riesenfehler seine Hochzeit war, und Ayesha hat sich in einen Profipokerspieler aus Guatemala verliebt, so
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