Einmal scheint die Sonne wieder
Sprüche standen. Danach wurden die Essenswagen herumgerollt, und die Oberschwester servierte uns Spaghetti, Suppe und Tee. Das Essen war gut zubereitet und ausgezeichnet, aber kalt. Der erbauliche Spruch auf meinem Tablett lautete: „Wenn Sie schon alles schwarz sehen müssen, dann wenigstens in einem hellen Schwarz.“
Während wir unser Abendbrot aßen, machten die Oberschwester und der Stationsarzt eine kurze Visite in unserem Zimmer und fragten, wie wir uns fühlten. Ich sagte, daß mir kalt sei, worauf die Oberschwester, ein nordischer Typ und eine schöne Frau, entgegnete: „Wärmflaschen am ersten Oktober.“ Dann gingen sie hinaus. Ein halbe Stunde nach dem Abendessen maßen wir Fieber. Die Temperaturen schienen sehr wichtig zu sein, und jede meiner Zimmergefährtinnen verkündete feierlich das Ergebnis, als sie das Thermometer aus dem Mund nahm. Sylvia hatte 38,8, Marie 38,3, Kimi 38,6 und ich 37,2.
Um fünf Uhr fing das Radio Orgelmusik zu plärren an. Es stand im Büro, wurde von dort aus kontrolliert, und in jedem Zimmer war ein Lautsprecher. Orgelmusik jeder Art legt sich mir aufs Gemüt, und dazu kam noch, daß ich keine Bettlampe hatte. Eine Bettlampe wurde allem Anschein nach nicht für notwendig erachtet und hatte nicht auf der Liste der erforderlichen Dinge gestanden. Meine Ecke war dunkel. Meine Gedanken waren finster.
Es war schwer, sich zu vergegenwärtigen, wieviel mir daran gelegen hatte, in den Fichtenhain zu kommen; wie dankbar ich dem Chefarzt gewesen war, daß er mich vor der langen Warteliste hineingenommen hatte; wie wunderbar es war, daß ich umsonst geheilt und gepflegt wurde. Ich fror und fühlte mich verlassen, und ich sehnte mich nach meinen Kindern und meiner Familie. Die Krankenstube war sehr still, und kleine Nebelfetzen wehten durch die weitoffenen Fenster. Wenn ich nur hätte lesen können, oder schreiben, oder reden, oder alles andere tun als hier zu liegen und der gräßlichen Orgelmusik zuzuhören!
Der Organist spielte „Glocken der Heimat“. Das war zu viel für mich. Große Tränen rollten mir aus den Augenwinkeln, über die Schläfen und in die Ohren. Ich sah mir meine drei Zimmergefährtinnen an. Sie alle schienen entspannt und befriedigt. Sylvia sagte: „Die ersten hundert Jahre sind die schlimmsten,“ und eine Schwester, die gerade hereinkam, um uns den Rücken zu massieren: „Die Patienten dürfen nicht sprechen. Drehen Sie sich rum, Mrs. Bard.“
Um sieben Uhr bekamen wir heißen Kakao, heiße oder kalte Milch. Um neun Uhr wurde mit einem Hauptschalter im Flur das Licht ausgemacht. Die Nachtschwester arbeitete mit einer Taschenlampe. Sie ging die Flure auf und ab, und ihre Taschenlampe tanzte wie ein Glühwürmchen über jedem Bett, hielt über jedem Gesicht einen Augenblick ein. Wenn sie unser Zimmer verließ, senkten sich wieder Dunkelheit, Schweigen und Kälte wie ein Leichentuch herab.
Die dunkelhaarige Frau hustete, trank Wasser, tastete nach irgend etwas in ihrem Nachttisch, legte sich auf die Seite und hustete wieder. Sylvia schnarchte leise. Ihr Bett knarrte, und ich hörte ihr Wasserglas auf dem Nachttisch klappern. Aus Kimis Ecke kam kein Laut. Ich trank etwas kaltes Wasser und versuchte, mich auf den Bauch zu drehen, fand aber dabei die alte, leicht angewärmte Stelle nicht wieder, auf der ich gelegen hatte, und kam auf ein unberührtes, eiskaltes, nebelfeuchtes Stück Laken. Fast hätte ich aufgeschrien, als ich mich schnell wieder zurückdrehte und in mein altes, lauwarmes Nest kuschelte. Die Nacht zog sich hin und hin und hin, und mir wurde immer kälter und immer trauriger zumute. „Ein Gutes muß man dem Leben im Fichtenhain lassen,“ dachte ich, als ich vergeblich versuchte, ein neues kleines Stück Laken am Fußende des Bettes anzuwärmen, „das Sterben kommt einem hier wie das reinste Vergnügen vor.“
FÜNFTES KAPITEL
Oh, Salvadora! Spuck nicht auf den Flura!
Die einzige treibende Kraft für das Personal im Fichtenhain war – die Patienten gesund zu bekommen. Wie der Gummiknüppel eines Polizisten wurde diese Triebkraft vierundzwanzig Stunden am Tage über unseren Köpfen geschwungen. Und das war auch notwendig, denn in einem Tuberkulose-Sanatorium geht es paradox zu. Eigentlich sollten sich dort die Kranken, von Ärzten und Schwestern unterstützt, bemühen gesund zu werden, in Wirklichkeit aber versuchen sie, sich umzubringen, werden jedoch in vielen Fällen von Ärzten und Schwestern daran gehindert.
Zu Anfang war das
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