Einmal scheint die Sonne wieder
Schublade. An einer Stange seitlich am Nachttisch befestigte sie mit großen Sicherheitsnadeln einen dicken braunen Papierbeutel, der oben säuberlich umgeknifft war. Dahinein tat sie einen kleineren braunen Papierbeutel, der ebenfalls oben säuberlich umgeknifft war. „Alle benutzten Papiertaschentücher gehören in diesen Beutel,“ sagte sie. „Jeden Morgen haben sie einen reinen Beutel hineinzutun.“ Neben den Beutel für benutzte Taschentücher steckte sie einen zweiten dicken braunen Papierbeutel. In diesen legte sie einen großen Stapel frischer Papiertaschentücher. „Halten Sie sich immer etwas vor den Mund, wenn sie husten!“ ordnete sie an. „Und benutzen Sie diese Taschentücher!“
Oben auf den Nachttisch stellte sie auf eine säuberlich gefaltete Papierserviette zwei Gläser mit Wasser. Außerdem einen Spucknapf aus Wachspappe. „Stellen Sie außer ihren Wassergläsern und dem Spucknapf nichts auf den Nachttisch!“ befahl sie. „Niemals Bilder oder Blumen auf den Nachttisch stellen!“ Mit den Worten: „Halten Sie Ihren Nachttisch ordentlich und sauber! Ein ordentlicher Patient ist ein hilfreicher Patient!“ legte sie einen Vorrat an braunen Beuteln, Spucknäpfen und Taschentüchern in meinen Nachttisch. Dann schob sie den Rollstuhl beiseite, trat zurück und sah mich von oben bis unten an. Kühl, unpersönlich.
Ich bat noch einmal: „Darf ich wohl bitte heißes Wasser in meine Wärmflasche haben?“ Granitauge antwortete: „Im Sanatorium ist es Vorschrift, daß die Wärmflaschen niemals vor dem ersten Oktober gefüllt werden.“ Ich entgegnete: „Ich friere. Mir klappern die Zähne.“ Sie: „Am ersten Oktober,“ und ging hinaus. Es war der achtundzwanzigste September. Noch drei Tage. Gut, ich konnte es aushalten, wenn meine Zähne mitmachten. Ich zog die Decken bis ans Kinn hoch und sah mich um.
Mir gegenüber lag eine Frau von schätzungsweise Anfang Dreißig, fast schon ausgemergelt dünn, mit dichtem, kurzem, lockigem, braunem Haar, einem schmalen, spitzen Gesicht, fiebrigen Backen und übergroßen, leuchtenden braunen Augen. Sie hieß Sylvia Fletcher, wie sie mir erzählte. Sie war sehr lieb und sehr heiser. „Seien Sie nicht unglücklich,“ sagte sie flüsternd, und es hörte sich an, als wenn jemand auf verstreuten Zucker tritt, „zu guter Letzt wird Ihnen wieder warm werden. Ich weiß das, denn ich hab seit zwanzig Jahren Tb.“ Ich fragte: „Warum muß es so kalt sein? Gehört das zu der Kur?“ – „In gewisser Weise,“ antwortete sie. „Hier draußen geht alles nach Vorschriften, müssen Sie wissen, und nach der Theorie vom größten Wohl für die größte Zahl. Irgend jemand hat behauptet, daß dem durchschnittlichen Patienten in dieser Temperatur und bei dieser Anzahl von Decken warm sein kann, und wenn Ihnen dabei nicht warm ist, ist das Ihre Sache.“ – „Aber wie kann ich mich ausruhen, wenn ich bibbere?“ – „Sie werden warm werden. Wenn die Nervenanspannung nachläßt, wird Ihnen wärmer sein“
In der Südwestecke lag eine kleine, sehr hübsche dunkle Frau, ebenfalls Anfang Dreißig und ebenfalls sehr dünn. Sie hieß Marie Charles und erklärte mir sofort, daß sie alles und jeden im Fichtenhain hasse. „Ich könnte mich umbringen, wenn ich daran denke, wie unbedingt ich hierher wollte. Ich hatte viel zu viele Bücher gelesen und stellte mir vor, daß alle Sanatorien so wären wie die in den Schweizer Alpen. So ein Witz! Das einzige Alpine hier ist das Benehmen von den Schwestern!“ Sylvia schaltete sich ein: „Marie, hören Sie zu, Sie müssen Geduld haben. Die Tuberkulosekur besteht in Disziplin. Geduld und Disziplin.“ Marie warf sich herum und drehte das Gesicht zur Wand.
In der Nordwestecke lag eine kleine Japanerin mit zarten braunen Händen, die sie züchtig über der Brust gefaltet hatte. Sie hieß Kimi Sambo. Ihr dickes, glattes schwarzes Haar war in der Mitte gescheitelt und mit zwei blauen Kämmen fest zurückgehalten, und ihre scharf gezeichneten schwarzen Brauen senkten sich nach den Schläfen. Sie hatte große, sehr leuchtende, mandelförmig geschnittene schwarze Augen und rosige, glänzende Wangen. Sie sagte gar nichts.
Um vier Uhr gab es Abendbrot. Zunächst machte ein nicht mehr bettlägriger Patient die Runde und stellte die Kopfenden unserer Betten hoch, so daß wir saßen; dann verteilten die Schwestern Tabletts mit Bestecken, Servietten, Salat, Brot und Butter, Nachtisch und kleinen Papierstreifen, auf denen erbauliche
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