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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Betty McDonald
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und der Familie getrennt sein würde, kam ich mir bei dieser neuen Affäre von zwei, drei und vielleicht fünf Jahren so vor, als hätte ich gerade ein üppiges Essen hinter mir, und nun verriete mir die Gastgeberin lachend, daß sie die komisch schmeckenden Austern selbst eingemacht hätte.
    Ich fragte Sylvia, ob sie wüßte, wie lange die Patienten durchschnittlich im Fichtenhain blieben; aber sie putzte sich die Zähne und antwortete nicht. So stellte ich meine Frage zurück und griff die wichtigere auf, ob ich erst mein Haar anfeuchten und mich in Wasser waschen sollte, in dem Haare schwammen, oder mich erst waschen und mein Haar mit Spucke anfeuchten.
    Morgens bin ich immer schlecht gelaunt und reizbar, jetzt war ich aber auch noch bleiern müde und erstarrt vor Kälte, und als ich mich in der kleinen Pfütze von bereits lauwarmem Wasser gewaschen hatte, war mir das Gesicht so gespannt und trocken, als hätte ich eine Lehmpackung aufgelegt. Ich griff in mein Nachttischschubfach nach meiner Flasche mit Rosenwasser und Glyzerin, stellte aber fest, daß die Schwester, die die Aufnahme gemacht, das offenbar für Medizin gehalten und nach Hause geschickt hatte.
    Ich holte meinen Handspiegel heraus und hatte die Absicht, irgend etwas mit meinem Haar zu unternehmen, aber ein Blick auf mein trockenes, graues Gesicht und das mooskrause Haar genügte, und ich hätte am liebsten meinen Kopf gegen die Bettwand geschlagen und losgeschrien. Ich holte meinen Lippenstift heraus, aber Sylvia warnte mich sofort: „Bloß nicht, bloß nicht, Betty, Patienten dürfen sich nur am Besuchstag schminken.“ Da hätte ich am liebsten ihren Kopf gegen das Bett geschlagen und losgeschrien. Um allem die Krone aufzusetzen, hatte sich mein Blut vor lauter Kälte in der Gegend meines Herzens gestaut, anstatt warm in meine eiskalten Extremitäten zu fließen. Ich knallte das Schubfach meines Nachttisches zu, legte mich auf den Rücken und haßte den Morgen.
    Ich habe den Morgen immer gehaßt. Er ist eine gräßliche Tageszeit. Er ist einfach zu früh und holt bei jedem Menschen die schlechtesten Seiten heraus. Auf dem Weg ins Büro habe ich immer mit meiner Schwester Dede die Leute, denen wir in der 27 begegneten, in Morgentypen eingeteilt. Dadurch vermieden wir es, uns gegenseitig die Augen auszukratzen.
    Da gab’s „Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen!“, einen Mann, der, gerade bevor er in die Straßenbahn stieg, offensichtlich seine Kinder geprügelt und seine arme alte Mutter die Kellertreppe runter gestoßen hatte, und nun mit auf die Brust gedrücktem Kinn und stierenden Schweinsaugen während der ganzen Fahrt in die Stadt mit seinen Gedanken natürlich immer bei „Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen!“ war.
    Dann der „Schweigende Hasser“, immer eine Frau, die zwar extra früh aufgestanden war, um heißes Wasser, Zitronensaft und Fruchtsalz zu trinken, trotzdem aber um sieben Uhr zwanzig noch gallig und knurrig war. Sie rülpste hinter ihrer Hand, haßte alle und starrte jeden an, der sich neben sie setzte. Wenn sie mit der 17.30-Bahn nach Hause fuhr, hatte „Schweigender Hasser“ gewöhnlich eine große, eckige Keksschachtel mit schwer verdaulichen Süßigkeiten bei sich, damit sie ja am nächsten Morgen noch galliger und knurriger war.
    „Trauerweide,“ ebenfalls gewöhnlich eine Frau, war so damit beschäftigt, sich selber leid zu tun, daß sie jeden Morgen vergaß, ihr Geld herauszuholen, das Kleingeld auf die Erde fallen ließ, vergaß, sich einen Umsteiger geben zu lassen und die ganze Fahrt unter Tränen einen aussichtslosen Kampf mit dem Schaffner ausfocht.
    Die „Schlaflosen“ waren gewöhnlich Männer und so geräuschempfindlich, daß ein Selleriekörnchen, von der gefühllosen Ehefrau unachtsam vom Küchentisch gefegt, ihnen wiederum eine lange schlaflose Nacht und uns am nächsten Morgen in der Straßenbahn eine lange, öde Geschichte darüber eintrug. Die „Eingebildeten Kranken“ waren Frauen mit Stimmen wie pfeifende Teekessel, viel „Beschwerden“ in der Nacht und gutem Gedächtnis für all die peinlichen Einzelheiten von Husten, Sichherumwälzen, Zucken, Taumeln und schließlich Aufstehen und Milchheißmachen.
    Die „Stöhner“ saßen und stöhnten die ganze lange Fahrt über schmerzlich und tief, wie der Wind in den Fichten. Die „Würger“ räusperten sich nach dem Einsteigen mindestens zehn Querstraßen lang, lärmten wie ein verstopftes Abflußrohr, schnauften, hüstelten, schnarrten, krächzten

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