Einmal scheint die Sonne wieder
Revolverschuß klingt, das Ritzen eines Streichholzes wie das Kratzen einer Metallsäge. Schließlich sagte Mary mit verklemmter, unnatürlicher Stimme: „Napoleon Bonaparte hat auch Tuberkulose gehabt, aber das wird dich kaum interessieren. Mich jedenfalls nicht.“
Wieder Schweigen. Wie nasses Zeitungspapier lag es auf uns. Nach langer Zeit meinte Madge, die jung und gesund war, aber ein schrecklicher Hypochonder, mit ihrer tiefen, langsamen Stimme: „Gott, ist dies ein deprimierendes Haus! Ich wäre schon erleichtert, wenn ich irgendein Todesröcheln hörte. Mir tut’s in der Brust weh, Sydney, glaubst du, daß ich vielleicht Tb habe?“ Mutter antwortete: „Madge, du weißt ja, wenn dies eine orthopädische Klinik wäre, hättest du die Schmerzen im Bein.“ Madge lachte und ließ wieder alle Bücher fallen. Der Krach wurde durch den Teppich gedämpft, aber wir alle sahen schuldbewußt auf die Tür. Keiner kam. Nichts geschah. Nur Schweigen.
Wie Wachsfiguren in einem Schaufenster saßen wir regungslos in unnatürlicher Haltung auf den harten Möbeln, sahen uns gegenseitig und sahen den leeren Kaminrost an. Die ganze Szene hatte etwas so Traumhaftes, daß ich mir Mutter und Mary betrachtete, die nebeneinander auf einem mostrichfarbenen Sofa am Fenster saßen, und darauf wartete, daß große Spinnen sie aneinander und an die Fensterflügel hinter ihnen festwebten. Ich hatte das Gefühl, wir wären alle schon ewig hier.
Dann hörten wir aus weiter Ferne und aus einem der dunklen Gänge das Rattern eines Rollstuhls und das Trapptrapp herannahender Schritte. Sofort kam Leben in uns, wir standen auf, machten uns an dem Gepäck zu schaffen, umarmten einander zärtlich und sagten uns alles, was wir in der letzten halben Stunde mit so viel Mühe zu unterdrücken versucht hatten. „Nur einmal im Monat für zehn Minuten – ich werd sie nicht mal mehr kennen,“ brachte ich heraus. Mutter, der die Tränen in den lieben braunen Augen standen, sagte: „Ich krieg’s nicht fertig, dir Lebwohl zu sagen, Betty.“ Mary: „Mach dir wegen des Geldes keine Sorgen!“ Und Madge: „Hoffentlich ist das Haus nicht überall so deprimierend wie hier!“
Eine Schwester kam herein und zog einen Rollstuhl hinter sich her. Sie war blond, kühl und tüchtig. Sie fragte: „Wer von Ihnen ist Mrs. Bard?“ Ich trat vor. Sie lächelte nicht. Mit ausdruckslosen Granitaugen sah sie mich, dann mein Gepäck an. „Setzen Sie sich in den Rollstuhl. Bücher brauchen Sie gar nicht erst mitzubringen, Sie können doch für lange Zeit nicht lesen.“ Von Marys, Mutters und Madges Anwesenheit nahm sie keine Notiz. Sie packte mir einfach meine Sachen in den Schoß und fuhr mich aus der Tür und den Flur hinunter. Ich drehte mich um und wollte noch einmal zurückwinken, aber alles, was ich hinter ihrer gestärkten weißen Tracht sehen konnte, waren blasse, winkende Fingerspitzen, die sich kaum von den dunklen Wänden abhoben.
Wir verließen das Hauptgebäude, überquerten eine kleine, weinüberrankte Brücke, kamen in ein anderes Gebäude, nahmen einen Fahrstuhl in den zweiten Stock und zogen knarrend einen langen, zugigen, blaßgrünen Flur entlang, der auf beiden Seiten in Kammern aufgeteilt war. Jede hatte zwei weißbezogene einfache Betten, und in jedem Bett hob sich ein Kopf, als ich vorbeikam.
Am Ende des Flures gingen wir durch eine Flügeltür mit der Aufschrift „Badezimmer“. Wie sich herausstellte, bestand das Badezimmer aus drei Räumen – einem quadratischen in der Mitte mit einem Krankenhausbett in jeder Ecke, hohen Flügelfenstern hinten und dunkelrotem Blocklinoleum auf dem Fußboden; einem Raum links mit drei Toiletten und zwei Waschbecken; und einem Raum rechts, in dem sich eine große, altmodische Badewanne befand. Diese ließ die Schwester eilfertig mit kochendem Wasser vollaufen. Ich erklärte ihr, daß ich vor noch nicht drei Stunden gebadet hätte, aber sie sah nicht einmal auf. „Das ist egal,“ meinte sie, „im Sanatorium ist es Vorschrift, daß alle ankommenden Patienten baden. Ziehen Sie sich aus.“
Als ich mich auszog, machte sie meinen Koffer auf und nahm die Seife heraus, die Waschlappen, Schlafanzüge, Pantoffel und den Morgenrock. Jede Bewegung begleitete sie mit einer Vorschrift. Sie tat, als läse sie sie ab, unten von der Seife, aus dem Ärmel meines Bademantels, aus dem Saum des Waschlappens. „Patienten dürfen nicht lesen. Patienten dürfen nicht schreiben. Patienten dürfen nicht reden. Patienten
Weitere Kostenlose Bücher