Einmal scheint die Sonne wieder
Morgen sagte Freundliche Organe zu der Oberschwester, daß sie eine „tüchtige Durchspülung“ brauchte oder irgendwas für ihren eingewachsenen Zehennagel. Die Frau mit den kleinen Maschinen bat um ein Mittel gegen ihr „Nasendrippen“. Wenn die Oberschwester zu mir kam, forderte sie mich auf, über irgend etwas zu klagen, aber ich wagte es nicht. Ich fror und war einsam und haßte die Tuberkulose, aber ich hatte frohe Gedanken, bei Gott! „Und wie geht’s Ihnen heut abend?“ fragte sie oft mit stahlhartem, warnendem Blick. „Ganz glänzend,“ sagte ich pflichtschuldig meinen Katechismus her. „Einfach glänzend.“
ELFTES KAPITEL
Schmückt die Räume mit altem Kreppapier! Tralala, Tralala!
Ich habe alle besonderen Tage immer gern gehabt, den Muttertag, Lichtmeß oder den 14. Juli, und die großen, ausgewachsenen Feste, wie Weihnachten, Dankfest und Ostern, rufen so viel Gefühle und Hochgestimmtheit in mir wach, daß mir beim bloßen Anschaun eines Königskuchens die Tränen in die Augen treten können. Daß ich im Fichtenhain Tag für Tag, Woche für Woche, Monat auf Monat im Bett lag und meine Beschäftigung darin bestand, daß ich auf das Plitsch, Platsch, Platsch des Regens hörte, der auf die Dachrinne vor meinem Fenster traf, oder wartete, bis ich an der Reihe war, mir die Lunge stillegen zu lassen, hätte dies Festtagsgefühl um das Billionenfache steigern sollen. Das tat es nicht. Die Tage waren sich alle so völlig gleich und folgten einander mit solcher monotonen Regelmäßigkeit, daß ich alles Interesse an Festtagen als solchen verlor.
Ich kannte sie nur als „Gas“-Tag, Badetag, Durchleuchtungstag, Besuchs-, Material- oder Lagertag. Das war zum Teil Sicheinfügen in das Sanatoriumsleben, Sichlösen aus dem normalen Leben. Zum Teil war es auch das kindisch ichbezogene Verhalten eines Kranken. Was ich tat, wie ich mich fühlte, was mit uns geschah, wurde im Laufe der Zeit immer wichtiger.
Wenn mir mein Besuch am Anfang von den Geschehnissen in der Außenwelt berichtete, war ich brennend interessiert und erlebte jeden Vorfall beim Erzählen lebendig mit. Dann verdunkelte mir allmählich meine Krankheit auf heimtückische Weise, wie ein Nachtnebel, der aus Sümpfen aufsteigt, die wirkliche Welt; und wenn die Familie mir von den Ereignissen zu Hause erzählte, fand ich das zwar interessant, blieb aber unbeteiligt wie bei Gesprächen über längst verstorbene Menschen. Lebendige Dinge waren mir nur die, die mit dem Sanatorium verbunden waren, die einzig lebendigen Menschen nur die anderen Patienten, die Schwestern, die Ärzte.
Zu Hause war das Dankfest immer ein herrliches Ereignis gewesen, selbst wenn wir dankbar waren für Hackfleisch in Form eines Truthahns. Wochenlang vorher dachten wir an das Dankfest, planten dafür und redeten darüber, aber der Abend vor dem eigentlichen Tag war doch der Höhepunkt von allem. Dann war das Haus bis in den letzten Winkel angefüllt mit Kindern und Hunden, mit Freunden und Köchen, und mit köstlichen Düften nach Kuchenbacken, Truthahnfüllung und Kaffee. Jedesmal, wenn die Türklingel läutete, stellten wir einen neuen Topf Kaffee auf und wuschen die Tassen ab, und wenn wir zu Bett gingen, waren wir so nervös und zappelig, daß wir wie die Lichter in einem Spielautomaten surrten und aufflammten, wenn wir uns versehentlich streiften oder anstießen. Am Morgen des Dankfestes krochen wir gewöhnlich alle recht brummig heraus und hatten viel zu viele Sachen für den Backofen vorgesehen, aber selbst das Herumstreiten war ein Vergnügen. Ein herzliches Familienvergnügen.
Im Fichtenhain erwachte ich am Morgen vor dem Dankfest bei Dunkelheit und trommelndem Regen und dachte nur: „Heute Haarwaschen. Welche Schwester ich wohl kriege?“ Im Badezimmer hörte ich nach dem Frühstück, wie Sheila Kami erzählte, daß wir am Dankfest zu Mittag Truthahn und Kaffee ohne Salpeter bekämen. „Dankfest?“ sagte ich. „Wann ist das überhaupt?“ – „Morgen,“ antwortete Kimi merklich entrüstet. „Sie haben doch bestimmt nicht vergessen, wie Ihnen die Tränen aus Ihren Mutteraugen liefen, als Sie die Oberschwester baten, ob Anne und Joan vier Tage früher kommen dürften, damit Sie sie am Dankfest sehen könnten.“ Da fiel es mir wieder ein, und ich war ganz übermütig vor Freude bei der Aussicht, meine geliebte Anne und Joan zu sehen, aber bis abends nach dem Essen war mir gar nicht nach Dankfest zumute.
Die Station war sehr ruhig. Das Radio war
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