Einmal scheint die Sonne wieder
abgestellt worden, und in den glatten Spiegel der abendlichen Stille fiel nur in der Ferne das Klappern der Schwestern, die Tassen abwuschen, und das eintönige Klick-klack des Regens. Ich versuchte zu lesen, verlor aber immer wieder den Faden und las den gleichen Absatz wieder und noch einmal.
Jede Magazin-Geschichte schien von einem Mädchen zu handeln, das widerlich klein, widerlich dünn war und „knorke“ sagte. Da ich nur an Geschichten von großen, drallen Frauen mit Tuberkulose interessiert war und immer schon das unstillbare Verlangen gehabt hatte, jeder, auch der zierlichsten Person einen Tritt zu versetzen, wenn sie „knorke“ sagte, warf ich die Zeitschrift ans Fußende des Bettes und drehte meine Lampe aus. Pulitt, pulatt, pulitt, pulatt spielte der Regen aufreizend auf dem Dach der Veranda. Sonst kam nirgendwoher ein Laut.
Ich lag und wunderte mich über die Stille, bis mir schließlich aufging, daß dies der Abend vorm Dankfest war, daß jeder an sein Zuhause dachte, und die Luft so voll war von Sehnsucht, so angefüllt mit Erinnerungen, daß einem das Atmen schwerfiel. Gegenüber im Flur schob jemand den schweren Vorhang vor seinen Erinnerungen zurück und tat einen langen, zitternden Atemzug. Aus dem Nebenzimmer kam ein Seufzer.
Auch ich seufzte, als ich an Kerzenlicht dachte und an die lieben Gesichter der um den Eßtisch versammelten Familie; an die köstlichen Dankfest-Morgengerüche nach Preiselbeeren, frischgehackter Petersilie und kochendem Gänseklein; an die Zeit, als Dede den Bratensaft mit Puderzucker legierte; daran, wie unweigerlich irgend jemand in der Familie in letzter Minute einen stinklangweiligen Esel ausgrub, der natürlich keine Freunde hatte und nicht wußte, wohin er sonst am Dankfest gehen konnte.
Ich erinnerte mich an das Jahr, in dem wir vier Stunden bei Tisch gesessen und zugehört hatten, wie ein verdientermaßen einsamer Mann aus Marys Büro jede Bridgehand aufzählte, die er seit 1908 gehabt hatte; an den alten Freund aus Alaska, den wir Cleve verdankten und der sein Messer an seiner Zunge wetzte und Tabaksaft vor den Kamin spuckte; an das Mädchen aus meinem Büro, die sich viermal von allem auftat und dann um den Tisch lief, damit wir alle sehen sollten, wie voll sie war, daß ihr Magen wie eine Trommel klang. „Oh, sei bedankt für die Erinnerungen… dada, dada, da, da…
Das Dankfest dämmerte kalt und regnerisch herauf, und zu Mittag bekamen wir kalten Truthahn, kalten Kartoffelbrei mit Soße, kalte Erbsen, kalten Pudding, kalten Obstsalat, kalten Kaffee, der ohne Salpeter genau so schmeckte wie mit, und kalte Torte. Unsere Tabletts waren mit kleinen Körbchen voll Süßigkeiten dekoriert, und die Schwestern waren sehr freundlich, ja, zur Feier des Tages schlossen sie sogar die Fenster vor dem Mittagessen. Der Fichtenhain hatte sicherlich getan, was er konnte, um das Fest zu einem Erfolg zu machen; aber trotz der guten Absichten aß ich wenig und ohne Appetit. Ich sehnte mich nach Hackfleisch in Truthahnform und meiner herzlichen, liebevollen Familie.
Um 2 Uhr brachte mir meine liebe, selbstlose, treue Mutter Anne und Joan mit neuen Regenmänteln, leuchtenden Augen und frischen, feuchten Locken. Alle waren sie in ausgesprochen gehobener Festtagsstimmung, und ich überlegte, was für eine Zumutung es für Mutter gewesen sein mußte, ihre Familie, ihr warmes Haus und offenes Feuer zu verlassen und in dem Regen meilen- und meilenweit mit dem Bus in dies kalte, freudlose Sanatorium zu kommen, im Zug zu sitzen und meine Klagen anzuhören. Auch für Anne und Joan war es eine harte Probe, denn sie waren zwar begeistert von der Fahrt im Bus und freuten sich auf jeden Besuch bei mir, mußten aber eine Stunde und fünfzig Minuten in dem öden Empfangszimmer ohne Kaminfeuer sitzen.
Ich fragte sie, wie sie sich die Zeit vertreiben würden, während sie auf Mutter warteten, und Anne sagte: „Ich hab die ,Mexikanischen Zwillinge‘ mitgebracht und will Joan vorlesen.“ Joan ergänzte: „Sie hat gesagt, daß sie mir vorliest, ob ich will oder nicht.“ Dann führte Anne in hochdramatischer Art ein Spiel vor, das sie in der Schule einstudierten. Sie übernahm alle Rollen und stürzte sich mit solcher Leidenschaft und Hingabe in eine jede, daß am Schluß aus einigen der anliegenden Zimmer Beifall kam.
Joan hatte ein Buch mit interessanten Tatsachen mitgebracht und in jeder Pause von Annes Aufführung gab sie eine interessante Tatsache zum besten. Anne: „Nein,nein,
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