Einmal scheint die Sonne wieder
zu mir.
Als ich ins Bett stieg, merkte ich zu meiner Überraschung, daß der ungewohnte Lärm und Betrieb mich müde gemacht hatte und daß es guttat, in den Frieden unserer kalten kleinen Zelle zurückzukehren. Kimi wollte alles wissen; und während der Unruhe durch die in ihr Bett zurückkehrenden Patienten konnte ich ihr das meiste von den Ereignissen erzählen. Als ich geendet hatte, sagte sie traurig: „Wissen Sie, Betty, mir scheint, daß die Anstalt sich mit Ihnen mehr Mühe gibt als mit mir.“ Ich lachte, worauf sofort eine mißbilligende Schwester in der Tür erschien, denn die Durchleuchtung war vorbei und die Station wieder so still, daß ein Flüstern wie ein Dampfstrahl aus weit geöffnetem Hahn klang.
Am 11. November hatten Kimi und ich einen langen, bitteren Brief von Eileen. Sie war in ein Einzelzimmer gelegt worden. Sie schrieb, daß sie gedacht hätte, man könne nicht weiter runterkommen, als in einem Zimmer mit Minna zu liegen. Wörtlich hieß es: „Jesus, Kinder, das war, als wenn man mit einem Wurm zusammen unter einem Grabstein liegt; aber jetzt lieg ich immer noch da drunter, bloß ganz allein.“ Der Grund für die Verlegung sei: „Oma hat letzten Sonntag die olle Wallady mit rausgebracht, und Mrs. Wallady hat so laut gebrüllt, daß die Schwestern ihr dreimal gesagt haben, sie soll ruhig sein, und schließlich ist die Alte Dame gekommen und hat Krach geschlagen, und Oma hat gesagt: ,Schämen Sie sich denn nicht, eine große starke Frau wie Sie, und machen sich über eine arme, taube, alte Dame lustig!‘ Jesus, Mädels, ich wär fast erstickt.“ Anscheinend auch die Oberschwester, denn sie verlegte Eileen auf eigene Verantwortung. Eileen tat mir leid, aber wie stark mein Mitgefühl war, merkte ich erst, als ich selbst am 15. November verlegt wurde.
Es ging alles so schnell, daß ich nicht einmal Gelegenheit hatte, Kimi Lebewohl zu sagen. Ich schlug nach der Ruhezeit die Augen auf, und ehe ich mich dessen versah, war ich am entgegengesetzten Ende des Gebäudes allein in einer Kammer. Ein paar Minuten später wurde Kimi an meiner Tür vorbeigerollt, und abends erfuhr ich aus einem aufgeregten Brief von ihr, daß sie mit dem charakterlosen japanischen Mädchen in ein Zimmer gelegt worden sei. „Wenn meine Lunge dadurch heilt, daß ich nicht rede, müßte ich noch in dieser Woche draußen sein.“ Der Brief schloß: „Warum hat die Oberschwester uns getrennt? Wie konnte sie etwas so Grausames tun?“ Eben das wollte ich gern wissen und fragte sie daher. Sie antwortete: „Es ist besser für die Patienten, wenn sie möglichst oft verlegt werden, damit sie sich verschiedenen Menschen anpassen. Es ist besser für Sie, wenn Sie allein sind.“ Ich haßte es, allein zu sein. Es war langweilig und bedrückend, und ich haßte es, mich mir selbst anzupassen.
Mein neues kleines Zimmer war sehr behaglich. Es hatte neben dem Bett ein Fenster, das auf eine große Veranda hinausging, einen Heizkörper, der so nah stand, daß ich gelegentlich am frühen Morgen meine Füße auftauen konnte, und einen herrlichen Blick auf die Kinder-Abteilung, den Sund und viele Bäume. Es war das erste Mal seit meinem Eintritt ins Sanatorium, daß ich aus einem Fenster sehen konnte; und einen oder zwei Tage lang fand ich es sehr aufheiternd, die sich biegenden Bäume, das aufgewühlte graue Wasser und den strömenden Regen zu beobachten. Dann begann ich Kimi zu vermissen. Ich vermißte ihre sanfte Stimme, ihr Verständnis und ihre scharfe Zunge. Durch das Alleinsein erschien mir der ganze Tag wie die Ruhestunden, und bald verlor ich meine gehobene Stimmung und das Gefühl von strotzender Gesundheit und brachte lange Stunden damit zu, mich nach den Kindern zu sehnen und an den Tod zu denken.
Auf der Veranda standen fünf oder sechs Betten, und die Patienten in diesen Betten lagen ganz still, fast unbeweglich. Sicherlich lagen sie der Kälte wegen so ruhig unter den hochgezogenen und eingesteckten Decken, wobei nur ihre Gesichter aus den weißen Tüchern herausguckten; aber bei meinem verdüsterten Gemüt erschienen sie mir als Schwerkranke, vielleicht Sterbende. Nachts, wenn ich hellwach lag, kalt, verlassen und traurig, sahen die Betten aus wie eine Reihe weißer Bahren, und in dem matten Widerschein der Lampen vom Verwaltungsgebäude schimmerten die Gesichter der Kranken grünlichweiß und totenblaß.
Bevor ich in den Fichtenhain kam, erschien mir der Tod, wenn ich überhaupt an ihn dachte, was selten vorkam, als
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