Einmal scheint die Sonne wieder
etwas Beschwingtes, Ehrfurcht gebietendes, Mitreißendes, Dramatisches und Erhabenes. Der Tod war ein Blitzschlag, eine Flut, ein Feuer, ein Sturmwind, ein Zugunglück, ein Flugzeugabsturz, ein Pistolenschuß, ein Sprung von einer hohen Brücke.
Als ich Kimi das eines Abends erzählt hatte, hatte sie gesagt: „Das ist ganz und gar nicht meine Vorstellung vom Tod. Für mich ist der Tod ein wollüstiger, verschlagener, zerrütteter alter Mann. Sein Bart ist dünn und gefleckt. Seine Augen haben dicke Lider, rote Ränder, einen verstohlenen und bösen Blick. Seine schlaffen roten Lippen sind schleimig und schlabberig. Er keucht vor Erwartung. In seinem halb geöffneten Mund sieht man braune, ausgefranste Zahnreihen. Nachts schlurft er den Korridor auf und ab, und sein übelriechender schwarzer Mantel schleift hinter ihm her.“
Ich war entsetzt gewesen und hatte Kimi gesagt, daß sie hypochondrisch sei. Sie hatte geantwortet: „Ich kann’s nicht ändern. Jedesmal, wenn Margaretta oder eine andere sehr kranke Patientin an unserer Tür vorbeikommt, bild ich mir ein, das böse Gesicht des Todes um die Ecke luchsen zu sehen. Ich glaube seinen schwarzen Mantel vor dem Rollstuhl durch die Tür wirbeln zu sehen. Ich sehe ihn als große Fledermaus über der Unfallstation, dem Bestrahlungsraum, dem Privatzimmer schweben. Ich kann ihn nachts auf dem Flur auf und ab schlurfen hören.“ (Er mußte schon sehr früh am Abend auf und ab schlurfen, denn Kimi schloß die Augen um 9 Uhr 30 und öffnete sie erst wieder, wenn das Waschwasser aus geteilt wurde.)
Jetzt, wo ich allein war und lange, schlaflose Stunden zum Nachdenken, Lauschen und Beobachten hatte, fand ich Kimis Vorstellung vom Tod viel realistischer als meine, und auch ich begann, sein böses, lauerndes Gesicht zu sehen und ihn nachts die Korridore auf und abschlurfen zu hören. Ich wachte auf, wenn die Nachtschwester um etwa eins oder halb zwei die Runde machte, und wenn das freundliche gelbe Auge ihrer Taschenlampe von der Decke fortgehuscht und das weiche Tapsen der sich entfernenden Schritte vom Dunkel aufgeschluckt war, lag ich wach. Starr vor Grauen. Dann fing es an. Von weit hinten in der Halle ein Husten – trocken und rasselnd wie Samenschoten im Wind. Dann noch einmal näher – stoßweise und würgend, so daß der Hustende nach Luft ringen mußte. Dann von der anderen Seite der Halle ein rauhes, tiefes Husten mit einem sonderbar metallischen Klang. Nun fing das Mädchen im Privatzimmer jämmerlich zu keuchen an, das Mädchen, dessen Haut die Farbe von altem Schnee hatte, dessen Arme und Beine wie Knotenstöcke aussahen. Unwillkürlich wollte ich versuchen, ihr zu helfen, bis meine Zunge sich geschwollen anfühlte, meine Kehle schmerzte, meine Lungen zerrissen schienen. „Schnell, schnell,“ wollte ich schreien, weil ich hinter dem allem das langsame, sichere Schlurfen des Todes hörte. Er ging die Flure auf und ab, er beeilte sich nie, denn er wußte, daß wir ihm blieben.
Eines Morgens sagte die Oberschwester: „Die Nachtschwester sagt mir, daß Sie nicht gut schlafen, Mrs. Bard. Haben Sie irgendwelche Sorgen?“ „Nein,“ antwortete ich, „gar keine.“ – „Worein denken Sie denn vorm Einschlafen?“ Ich antwortete mit unangebrachter Aufrichtigkeit: „Ich habe Sehnsucht nach meinen Kindern und denke an den Tod.“ Sie war entsetzt: „Tod! Aber Mrs. Bard, wie fürchterlich!“ Dann faßte sie sich schnell und gab sich einen Ruck, so daß sie nichts von einem lebendigen menschlichen Wesen mehr an sich hatte. „Wir gestatten den Patienten im Fichtenhain nicht, an den Tod oder andere unerfreuliche Dinge zu denken. Sie sollen frohe, heitere Gedanken haben.“ Ich widersprach: „Aber ich kann nicht auf heitere Gedanken kommen, wenn ich ganz allein bin. Ich hasse es, allein zu sein.“ Sie meinte: „Es ist besser für Sie, allein zu sein. Sie müssen frohe Gedanken haben, oder ich muß es dem Chefarzt melden.“ An dem Abend schrieb ich an Kimi und erzählte ihr, daß die Anstalt jetzt meine Gedanken kontrolliere. Sie antwortete: „Wenn sie das bloß könnten! Ich seh mir meine Zimmergenossin an und denke vierundzwanzig Stunden am Tag an Mord.“
Von da ab verbrachte ich meine Tage, solange ich allein war, mit dem Bemühen, mir einen Vorrat froher Gedanken anzulegen, über die ich dann in der Nacht nachsinnen konnte. Während ich still für mich lag und Fröhlichkeit aufspeicherte, tauschten die zwei Frauen in der nächsten Kammer ihre Leiden
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