Einsam, zweisam, dreisam
Matchsack ins Schließfach.
Ob er Regina anrufen soll? Er traut sich nicht. Noch nicht. In einer Art, die er nicht genau beschreiben könnte, war sie gestern so was wie Sieger nach Punkten. Jedenfalls kommt es ihm so vor. Mit ihren gut plazierten «Vielleichts» hat sie ihn in eine Verlegenheit manövriert, die er jetzt noch spürt, und die er am Telefon wohl nicht würde verbergen können. Immer an den Stellen, wo er kleine Ankerchen auswerfen wollte, hat sie den Grund mit einem lässigen «Vielleicht» vermint. Aber was ist mit der vertrauensvollen Geste, seine Mappe durchzublättern, als wären sie seit Jahren Freunde? Bei genauerem Hinsehen, sagt er sich, ist das keine Vertrautheit. Ich bilde mir das ein, weil es mir gefiele.
Er bewundert Katzen, die sich nähern, so weit sie wollen, Zärtlichkeit verschenken, soviel sie wollen, und Aufmerksamkeit annehmen, soviel sie wollen. Wenn das Bilderansehen so etwas wie zärtlich war, dann auch nur auf die freie und rückzugssichere Art einer Katze. Katzen haben kein Telefon.
Jedenfalls ruft man sie nicht einfach an.
Möglicherweise bedeuteten die «Vielleichts» sogar, er dürfe sich wünschen, in ihrer Nähe zu sein, dürfe sich vorstellen, sie habe ein blaues Kleid an, dürfe träumen, sie sage «Du hast es kaputtgemacht». Möglicherweise könnte durch diese Vorstellung sogar ein gewisses Kribbeln auf ihrer Haut entstehen?
Soll er anrufen oder nicht?
Sie hat gesagt, das gehöre dazu und er finde ihren Namen im Telefonbuch. Das heißt doch, daß er darf.
Eine Männerstimme erklärt ihm, Regina sei nicht da, und sie, die Stimme, wisse nicht, wann sie wiederkommt. Er solle doch abends zwischen fünf und sieben noch mal anrufen. Da sei die Chance am größten.
Sig ist erleichtert. Das war fast so ein Gefühl wie früher, wenn der Klavierlehrer krank war. Oder der Zahnarzt.
«Hass ’ne Maak fü’n aam Berber? Ich ezzähl da ’ne Geschichte für.» Sig handelt den Mann auf zwei Mark hoch. Unter der Bedingung, daß er keine Geschichte erzählt. Der Mann ähnelt dem Mönchsgesicht im Hotel, an dem er sich eben noch vorbeigeschlichen hat.
Jetzt müßte Andrea mit ihm rechnen. Leider, denkt er. Schade, daß ich den Termin nicht verwechselt habe. Er fürchtet, sie räumt auf, weil er kommt. Lieber wäre er einfach reingeplatzt und hätte verhindert, daß sie ihn zum Fremden macht, vor dem Spielzeug im Wohnzimmer und Geschirr vom Eßtisch versteckt werden muß. Selber schuld, sagt er sich, sonst verwechsle ich alles, und wenn’s mal gut wäre, treffe ich das richtige Datum. Das stimmt. Er verwechselt wirklich fast alles. Schaffner mit Generalen, Servietten mit Schnitzeln und Aschenbecher mit Kaffeetassen. Der Tag wird kommen, an dem er ein Fenster im zwölften Stock für die Durchreiche zur Küche halten wird. Oder für die Tür zu einer besseren Welt.
Er freut sich auf Andrea. Vor achtzehn Jahren waren sie ein Schülerliebespaar. Nach der Schule waren sie Freunde, die einander Ängste, Niederlagen und Sehnsüchte anvertrauten. Seit Andrea nach Freiburg zog, wechseln sie Briefe. Darin geht es noch heute meist um Ängste. Niederlagen und Sehnsüchte. Die Ängste bleiben konstant, die Sehnsüchte nehmen ab und die Niederlagen zu.
Mit rigorosem Ernst verlangt Andrea von sich, glücklich zu sein. Sie hält Glück für ein Zeichen von Lebenstüchtigkeit. Je angestrengter sie aber jeden Augenblick auf das erwartete Glücksgefühl abhorcht, desto undeutlicher läßt es sich spüren.
Wie Öl will sie es aus der Wüste ihres Alltags pumpen und mißtraut so jedem Augenblick, weil sie nicht weiß, ob das, was sie fühlt, schon das Glück war.
Ihre Sehnsucht nach Erfüllung verteilt sie gleichmäßig auf drei Gebiete: Den Kurs über Musikgeschichte, den sie in einer Halbtagsstelle an der Volkshochschule hält, den jährlichen Urlaub, den sie regelmäßig allein ohne ihren Mann und die Kinder verbringt, und das Klavierspiel. Sie spielt meisterhaft Chopin.
In den Briefen, die sie viel ausführlicher schreibt als Sig, konserviert sie ein geistvolleres und ausgefüllteres Selbst als das in ihrem Alltag. Vielleicht entwirft sie dieses bessere Selbst auch nur, schreibt es auf, wie einen Roman, den sie ihm zu treuen Händen in den Tresor seines Desinteresses übergibt.
Seine Antwortbriefe sind meist salomonisch bis flüchtig gehalten. Ihm ist ihr Vertrauen peinlich, denn er liest die Bitte um Rat zwischen den Zeilen.
Wie soll er jemandem raten? Er weiß doch selbst nicht, wie
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