Einsam, zweisam, dreisam
dauere länger als ein Buch, man erlebe auch all das, was der Autor sich wegzulassen erlaube. So strecke sich alles, und der Anteil der Sensationen sei eben relativ … Sie zäumt sogar noch ein trojanisches Pferd vom Schwanz her auf, denkt Sig und rutscht in dem italienischen Sessel herum.
… Es gehe ihr aber wie gesagt nicht um die Sensationen, sondern vielmehr um Beweise. In einem Buch von Bloch habe sie einen Satz gelesen, der sie nicht mehr loslasse. «Die Melancholie des Erreichten.» So zwingend logisch sei ihr dieses Gefühl vorgekommen, daß sie seither bei sich selber danach suche. Aber sie fände nichts.
Sie erreiche alles mögliche, gebäre ein Kind nach dem andern, bringe ihren Volkshochschülern was bei, spiele die Nocturnes, als komponiere sie sie eben; und so weiter. Tausend Dinge erreiche sie, aber sie spüre nichts, außer einem gewissen Triumph vielleicht. Ein leises Gefühl, über etwas oder jemand gesiegt zu haben, sei alles. Er möge sie nicht auslachen, aber seit sie diesen Satz gefunden habe, sei ihr das zu wenig. Sie glaube diesen Satz. Sie wolle ihn bei sich wiederfinden, weil er wahr sei. Sie wolle diese Melancholie spüren. Vorher glaube sie nicht, irgendwo angekommen zu sein. Vorher glaube sie nicht, etwas Wirkliches getan zu haben.
«Uff», sagt Sig, «jetzt erschütterst du mich aber.»
«Wieso?»
«Das ist falsch rum, Andrea, stört dich das nicht? Du kannst dich in so einer Aussage vielleicht wiederfinden, aber du kannst ihr doch nicht hinterherleben wollen. Eben hast du gesagt, man schreibe Bücher vom Leben ab und nicht andersrum, jedenfalls hab ich dich so verstanden, und jetzt versuchst du’s doch andersrum.»
Sie ist enttäuscht: «Vielleicht hast du recht.»
Er ist wirklich verwirrt. Mit dieser Art Nachdenklichkeit kann er nicht nur nichts anfangen, sondern er hält sie ganz schlicht für aufgesetzt. Verlogene Pseudointellektualität. Aber er hat Andrea gern, und aus ihren Briefen kennt er solche Eskapaden schon. Er hätte nicht so abweisend antworten müssen. Es hätte gereicht, sich einfach nachdenklich das Kinn zu kratzen, «interessant» zu sagen und zuzuhören.
Er meint immer, er müsse antworten. Dabei will fast niemand eine Antwort. Niemand braucht einen Rat. Man braucht einen Zuhörer und sonst gar nichts. Sig ist ein Trottel, sich immer wieder in diese Falle zu werfen.
«Entschuldige bitte», sagt er, «vielleicht bin ich einfacher gestrickt als du.»
«Vielleicht bist du sogar gehäkelt?» Andrea fegt die Mißstimmung mit einem Achselzucken weg und sagt, sie müsse jetzt sowieso gehen.
Sie gibt ihm einen Schlüssel und sagt, heute abend sei eine Art Party hier. Er solle doch dabeisein. Lauter nette Leute, Freunde und Kollegen. Manche hätten schon sein Bild bewundert.
«Gern», sagt Sig.
In seinem Kopf riecht es nach alten Rosen.
Das Bild hat er Andrea zur Hochzeit geschenkt. Es ist gut. Wäre es allerdings länger in seinem Besitz geblieben, dann hätte er es sicher noch mehrfach übermalt, zerschnitten, vielleicht sogar schließlich weggeworfen, aber es ist gut. Gut, daß er es hergegeben hat. Manche Kinder werden vielleicht erst dann schön, wenn sie endlich dem Zugriff der Eltern entzogen sind.
Er sieht sich in der Wohnung um. Andrea ist fort und er geht ungeniert von Zimmer zu Zimmer. Soo ungeniert allerdings auch wieder nicht, denn, als er die Tür zum Schlafzimmer öffnet, genügt ihm schon ein Blick aufs Bett und herumliegende Wäsche, um ihn sofort wieder umdrehen zu lassen.
In die beiden Kinderzimmer schaut er nur flüchtig. Bad und Küche kennt er schon. Nur in der Tür des Arbeitszimmers von Andreas Mann bleibt er einige Zeit stehen. Der Mann ist Mathematiklehrer, und so sieht das Zimmer auch aus. Pfeil und Bogen an der Wand, eine mexikanische Decke gegenüber, Friedenstaube an der Tür und eine kleine Büste von Descartes im ziemlich vollen Bücherregal.
Der Anblick dieser bubenhaften Zimmereinrichtung macht Sig nun vollends ein schlechtes Gewissen. Er sollte nicht hier rumschnüffeln, sollte überhaupt nicht allein in dieser Wohnung sein. Andrea könnte fürchten, daß er in ihren Geheimnissen wühlt.
Obwohl, sie vertraut ihm ja immerzu Geheimnisse an. Aber das ist was anderes. Zwischen anvertraut bekommen und herausfinden ist derselbe Abstand wie zwischen Arzt und Polizist.
Ach, was soll der Quatsch. Andrea ist nicht der Typ, der Reizwäsche in einer Schublade versteckt. Eher ein Tagebuch. Und er ist nicht der Typ, diese Schublade zu
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