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Einsam, zweisam, dreisam

Einsam, zweisam, dreisam

Titel: Einsam, zweisam, dreisam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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man lebt. Er weiß nicht, wie sich das definitive Glück anfühlen sollte, und er weiß nicht, was die wichtigen oder unwichtigen Dinge sind. Wie hält man die eigene Haut zusammen? Er weiß es nicht. Er hat selber das Gefühl, täglich einen kleinen Teil von sich zu verlieren, und weiß nicht, ob dafür etwas nachwächst, oder ob er konstant weniger wird. Bis das letzte Fetzchen flattert.
    Aber Andrea schert sich vielleicht gar nicht um Rat. Vielleicht reicht es ihr wirklich, ihn als Archiv ihres besseren Ichs zu benutzen.
    «Schön, daß du da bist.» Sie hat aufgeräumt. Gleich blubbert Kaffee durch den Filter, und sie fragt: «Du möchtest doch Kaffee?»
    «Ja», sagt Sig. «Ich war gestern schon hier.»
    «Warum bist du nicht gekommen?»
    Seit zwei Tagen ist ihr Mann mit den Kindern in Österreich. Ihr besseres Ich kann schalten und walten. Eine Menge Bücher liegen aufgeschlagen herum. Es sieht nach Arbeit aus. Andrea sieht seinen Blick durchs Zimmer streifen und sagt: «Das ist meine Art zu lesen. Ich wechsle das Thema mitten im Buch. Wenn ich eines lese, fällt mir ein anderes ein.»
    «Mir gefällt der Anblick», sagt Sig, «sieht nach Abenteuer aus.»
    «Schön, daß du da bist», sagt sie noch einmal.
    Sie ist so blond wie eh und je, fülliger als früher, aber mit einer weichen tigerhaften Beweglichkeit, an die er sich nicht erinnern kann. Auch hat sie etwas selbstsicher Ruhiges, das ihn überrascht. Dem Tonfall der Briefe nach urteilend, hat er mit Ängstlichkeit gerechnet. Aber davon keine Spur.
    War die Andrea seiner Erinnerung ein «doch irgendwie sehr evangelisches Mädchen», so sitzt jetzt eine Frau vor ihm, die mühelos die überschaubaren Räume dieser Wohnung mit ihrer Person ausfüllt.
    «Eine schöne Frau bist du geworden», sagt Sig in einem Ton, als suche er im eigenen Kopf nach einem Jugendfoto von ihr.
    Sie antwortet nicht, schaut ihm nur direkt in die Augen zum Herausfinden, ob er für dieses Kompliment was will. Warum sieht sie mich so an? denkt er. Seit gestern muß etwas mit seiner Unsichtbarkeit geschehen sein. Schon im Zug hatte er das Gefühl, Regina sehe nicht so durch ihn durch, wie man das gemeinhin tat. Auch die Geschichte mit dem Spiegel im Hotel geht ihm nach.
    Bisher hatte er sich noch immer auf diese Unsichtbarkeit verlassen können. Wie eine versteckte Kamera war er durch die Welt gegangen: Sicher, alles einzufangen, und genauso sicher, nicht eingefangen zu werden.
    Andrea erzählt von Klassenkameraden. Seien alle unbeschadet in der Welt angekommen. Jeder ernähre sich oder andere oder werde von jemandem ernährt. Auch sie sei unbeschadet in der Welt angekommen, wenn auch nicht ganz und gar sicher, ob dies wirklich die Welt sei.
    Oha, denkt Sig. nur zwei Sätze Umweg braucht sie, um wieder bei einem grübelnswerten Ansatz zu landen … Beachtlich.
    Sie sagt, es sei schön, den Kindern beim Wachsen zuzusehen, schön, sie zu beschützen, zu lernen, das Allerbekannteste wieder neu zu sehen … Schön sei es, in so einem kleinen Staat wie dieser Familie mit weisen Gesetzen zu regieren, per Verabredung Harmonie zu erzeugen und einander zu schonen und schützen… Ob er wisse, was sie meine?
    Er ist sich nicht sicher, aber zuckt ermutigend mit den Schultern. Sie nagt an der längsten Strähne ihres Haars und kuschelt sich noch tiefer in die Sofaecke. Sie zieht die Beine noch ein bißchen enger an sich, und es sieht aus, als verkrieche sie sich in den zu großen, marineblauen Pullover, den sie sicher aus dein Kleiderschrank ihres Mannes genommen hat.
    Schon wieder so ein großer Pullover, denkt Sig, was will mir das Schicksal damit sagen? Er grinst unsichtbar. Scherzehen dieser Art teilt er sich manchmal selber zu. Auf Durststrecken.
    Andrea spricht weiter; Das könne die Liebe sein, oder das Glück. Man sei schlau genug, sich gegenseitig mit Vergnügen zu versorgen. Sie habe ein schönes Leben. Glaube sie. Keine Langeweile, keine verpuffte Energie, sie habe Ziele und erreiche sie oft. Sie dürfe abends müde sein. Er sehe aus, als verstünde er nichts. «Stimmts?»
    Sig ist aufgeschreckt: «Ich schreibe innerlich mit. Ich weiß noch nicht, ob ich verstehe. Frag mich später noch mal.»
    Sie zieht die Augenbraue hoch, hält seine Antwort für eine flinke Ausrede. Darin war er immer schon gut. Aber sie spricht weiter: Worauf sie hinauswolle, sei, daß sie nicht so kitschig sei, ihr eigenes Leben mit Romanen zu vergleichen, um dann einen Mangel an Sensationen zu entdecken. Ein Leben

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