Einsam, zweisam, dreisam
suchen oder gar zu öffnen.
Früher glaubte Sig, er könne mit der Wirklichkeit spielen. Könne ihr Umwege, Zwischenwelten und Doppelbedeutungen andichten und so den Boden, auf dem er viel zu selbstverständlich stand, ein bißchen dünner oder glatter machen. Aber heute hat er viel eher das Gefühl, die Wirklichkeit spiele mit ihm. Als würde er bestraft für jedes falsche Buch und jeden falschen Film, mit denen er seinen Innere-Werte-Speicher durcheinandergebracht hat. Diese Reizwäsche-Idee ist doch reinster Schulmädchen-Report.
Er geht zurück ins Wohnzimmer, wo er beim Anblick des Matthis-Konzertflügels an die Orchesterprobe von Fellini denken muß. Das war immerhin kein falscher Film.
Draußen vom Balkon schaut er, den Becher mit kalt gewordenem Kaffee in der Hand, in die Runde völlig gleicher Wohneinheiten. Die ganze Anlage ist wie eine Wagenburg angelegt. In der Mitte ein schöner Park mit Kinderspielplatz und Bänken und draußen die böse Welt mit all diesen Widersprüchen und Anpassungszwängen.
Von den Balkonen aus können die Lehrer, Wissenschaftler, Anlageberater und Klinikärzte einander in die Wohnzimmer sehen. Menschen dieser Art haben keine Vorhänge oder ziehen sie nicht zu. So kann man in Ruhe nachzählen, ob wirklich ein Drittel Ikea, ein Drittel Andy Warhol und ein Drittel italienisches Design die Burg möblieren.
Die Wohnzimmer sind hoch, wie die Apsis einer kleineren Kirche. Immerhin haben die Räume etwas angenehm Unviereckiges. Man fühlt sich nicht wie ein Streichholz, das nur darauf wartet, daß jemand die Schachtel aufzieht und einem den Kopf wegbrennt.
«Aber alles paßt», denkt Sig. «Es paßt viel zu gut.» Und geht raus.
Nachdem er die Luxus-Wohnschleuder verlassen hat, achtmal in verschiedene Richtungen geschickt wurde und zweimal an einem Punkt, den er schon kannte, wieder ankam, ist noch immer kein Bahnhof in Sicht.
Er steht in einer Art Betonschlucht. Das Haus links von ihm sieht aus wie ein amerikanischer Toaster und das Haus rechts wie ein französischer. Hinter ihm ist der Eingang einer Tiefgarage, und direkt vor ihm werden gerade Aschenbecher, Zuckerstreuer und kleine Blumenvasen auf die Tische eines Straßencafés verteilt. Offenbar soll die Aprilsonne demnächst in diesen Canyon einfallen und Menschen an die Tische kleben.
In der Glastür des Cafés hängt ein Ausstellungsplakat. Richard Hamilton. Sig geht hin, um den Namen der Galerie zu lesen. Richard Hamilton interessiert ihn nicht sehr, denn Sig ist ein altmodischer Maler, der Collagen als einen Schülerspaß ansieht. Überhaupt kommt er nicht klar mit allem, was nicht gemalt ist. Sogar Skulpturen bedeuten ihm herzlich wenig, wenn man die Pieta, David und ein, zwei anrührende Cellinis ausnimmt.
Er interessiert sich für die Ausstellungsräume. Er ist mit dem festen Vorsatz hergekommen, jedem Galeristen seine Mappe vorzulegen. Mit dieser Methode hatte er schon einige Male Erfolg. Einfach hingehen und ausstellen wollen ist immer noch das Beste. Viel besser, als auf irgendwelche Beziehungen, Empfehlungen oder Einladungen zu warten.
«Galerie schwarzes Kloster» steht auf dem Plakat.
Und direkt dahinter, auf der anderen Seite der Glastür, sitzt Regina. Allein. Sie hat ein Buch in der Hand, «Das Schwanenhaus» von Martin Walser. Noch bevor Sig Hemmungen bekommen könnte, sitzt er neben ihr.
«Ist das zufällig genug?»
«Wieso, was muß denn zufällig sein?»
Sie lehnt sich zurück, legt das Buch aus der Hand und lächelt. Also darf er bleiben.
«Ich war mir sicher, das erste, was du sagen würdest, wäre ‹vielleicht›», sagt er, um dem gefährlichen Schweigen der Verlegenheit vorzubeugen, aus dem es außer Stühlerücken, Räuspern und Zigarettenzerkrümeln kein Entrinnen gibt.
«Wenn du es gesagt hättest, hätt ich einen Punkt gewonnen.»
«Was für ein Punkt denn?» fragt sie beiläufig und hat so ein halbes Lächeln, als überlege sie, ob sie tatsächlich «vielleicht» gesagt haben könnte.
«Das Punktesystem erklär ich dir erst, wenn du mich besser kennst.»
«Glaubst du, ich lern dich besser kennen?»
«Vielleicht», sagt er, und sie lacht.
Ihr Lachen klingt so wundersilbrig, daß Sig fast hyperventiliert. Offenbar verwechseln sich Lunge und Ohr gegenseitig. Er nimmt sich vor, jeden Witz, der ihm einfällt, ins Gespräch zu schmuggeln, damit sie wieder lacht.
Jetzt bloß nicht schweigen. Er deutet auf das Buch neben ihrer Tasse: «Ich kenn die Leute, die das Haus gekauft
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