Einsame Herzen
ihre Armbanduhr. Halb zwölf.
Sie spürte, wie ihr die Galle hochstieg. Kurz vor zwölf. Kurz vor Mittag. Oh, Darko, rief sie stumm aus. Bitte, bitte, geh nicht. Doch sie wusste, dass ihr stummes Flehen vergebens war.
Irgendwie schaffte es Danielle, sich in die Küche zu schleifen, wo sie den Abwasch erledigte, um ihre nervösen Hände zu beschäftigen. Wiederholt entglitt ihr ein Teller oder eine Tasse und sank ins Spülwasser zurück.
Danielle befahl den Mädchen, duschen zu gehen und die Zähne putzen. Sie würde den Abwasch alleine machen. Sie wollte allein sein. Letzteres sprach sie jedoch nicht laut aus. Als die Kinder verschwunden waren, liess sie sich erschöpft auf den Steinboden sinken. Zwanzig vor zwölf. Was hatte Darko ihr nochmal gesagt, für den Fall, dass... Sie stiess einen gedämpften Schrei aus. Nein, sie wollte nicht daran denken. Sie würde diese Möglichkeit gar nicht Erwägung ziehen. Es durfte nicht sein, es durfte nicht geschehen, dass er nicht zurückkehren würde.
Um zehn vor zwölf zog sich Danielle mühsam auf die Beine. Blind tastete sie im Spülwasser nach dem Geschirr, das sie noch nicht abgewaschen hatte. Mit zitternden Fingern und bebenden Händen spülte sie Teller, Tassen und Besteck. Sie wusch gerade eine Tasse ab, als Darko um fünf vor zwölf mit bedächtigen, schweren Schritten ins Erdgeschoss herunterkam.
Danielle biss sich auf die Lippen und schloss die Augen. Bitte, nicht, flehte sie stumm. Geh nicht!
Langsam schlug sie die Augen wieder auf. Sie blickte aus dem Küchenfenster und erkannte einen der Zwillinge, der ungeduldig vor dem Garten stand, mit geschultertem Gewehr.
Darkos Schritte kamen vor der Küche zum Stehen. Danielle nahm den Blick vom Fenster und wirbelte herum. Wortlos starrte sie Darko an. Sie brauchte nichts zu sagen, ihre stumme Bitte stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, als hätte sie sie sich mit roter Farbe auf die Stirn geschrieben. Darko jedoch nickte ihr nur knapp zu, dann ging er auch schon weiter. Ehe Danielle noch etwas sagen konnte, fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss.
Mit einem entsetzten Keuchen stürzte Danielle ins Wohnzimmer. Sie drückte sich an ein Fenster, umklammerte den Sims und presste die Stirn gegen das kühle Glas. Sie folgte Darko mit den Augen, als er mit dem Zwilling in Richtung Wald aufbrach.
"Komm zurück", flüsterte sie und ihr warmer Atem beschlug das Fenster. "Oh, bitte, komm zurück."
Als hätte Darko sie gehört, drehte er den Kopf über die Schultern. Er musste sie entdeckt haben, denn sekundenlang starrte er auf das Fenster, hinter dem sie stand. Er liess sich jedoch nichts anmerken, gab ihr kein Zeichen, nichts, sondern wandte seine Aufmerksamkeit rasch wieder auf den Wald, der sich vor ihm erstreckte.
Danielle beobachtete, wie die Männer zwischen den Bäumen verschwanden. Sie blieb am Fenster stehen, auch als sie Darko nicht mehr sehen konnte. Sie starrte hinauf auf den weissen Schnee, der im kräftigen Sonnenlicht silbrig funkelte. Wie konnte sich unter einem so schönen Wintertag eine solche Grausamkeit verbergen?
Unter anderen Umständen hätte sie die Mädchen gerufen und wäre mit ihnen zu einem Spaziergang aufgebrochen. Sie hätten sich einen Weg durch den hohen, unberührten Schnee gepfadet, hätten nach einer Stunde erschöpft eine Pause eingelegt, eine Kleinigkeit zu sich genommen und sich dann wieder auf den Heimweg begeben.
Doch jetzt, wo sie nicht wusste, ob sie Darko jemals wieder sehen würde, erschienen ihr die Sonnenstrahlen plötzlich heimtückisch, das Funkeln des Schnees bedrohlich und das unendliche Weiss furchteinflössend. Heute würden sie ganz bestimmt keinen Schritt aus dem Haus machen.
Danielle konnte nicht sagen, wie lange sie so am Fenster gestanden hatte, zu einer Statue erstarrt, kalt und bewegungslos. Seit Darkos Aufbruch mussten bestimmt zehn Minuten vergangen sein, als Danielle aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Ihr Kopf fuhr herum. Was sie da sah, liess ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie bekam eine Gänsehaut und konnte kaum noch atmen. Keuchend rang sie nach Luft. Da draussen auf Schneeschuhen ging niemand anders als der zweite Zwilling. Ein Mann mit fettigem Haar und grauem Gesicht steuerte direkt auf ihr Haus zu, ein Gewehr auf den Schultern. Danielle war so entsetzt, dass sie sich nicht rühren konnte. Der Zwilling kam immer näher, stapfte schwer aber entschlossen durch den Schnee.
Danielle erzitterte. Was sollte sie tun? Sie war nun ganz allein,
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