Einsamen
Eva Backman sich die Karte anschaute und sie mit ihrer Erinnerung daran, wie es in Wirklichkeit aussah, verglich, erschien ihr die Verteilung ziemlich natürlich zu sein. Sie hatten den Wald vom Süden her durchstreift, in einer Art Fächerformation, ohne dass einer von ihnen sich dessen bewusst gewesen sein musste, aber es sah ziemlich gleichmäßig verteilt aus. Dann hatten sie sich Richtung Norden auf den Steilhang zubewegt, der Hang selbst war nicht mehr als fünfzehn, zwanzig Meter breit. Weiter im Osten war es noch ziemlich steil, im Westen flacher. Sie behielt ihr Gedächtnisbild im Kopf und rechnete die Höhenunterschiede auf der Karte aus. Wenn die Gruppe sich entsprechend weiterbewegt hätte, hätte man sich nach links wenden müssen, in westliche Richtung, und wäre so am Steilhang vorbeigegangen.
Aber so weit war man ja nie gekommen. Der Todesfelsen hatte jeder weiteren Fortbewegung einen Riegel vorgeschoben.
In einem Kommentar zu der Karte hatte Sandlin die Abstände zwischen den verschiedenen Positionen ausgerechnet. Es war schwer zu sagen, ob das wirklich irgendeine Bedeutung hatte, aber diejenige, die sich Maria Winckler offenbar am nächsten befunden hatte, war Elisabeth Martinsson gewesen, zirka hundert Meter südlich. Danach kam Germund Grooth, ungefähr hunderfünfzig Meter und etwas weiter östlich. Am weitesten entfernt, ungefähr dreihundert Meter und am weitesten westlich, hatte Rickard Berglund sich aufge-
halten.
Sie überlegte und kam dann zu dem Schluss, dass das zumindest damit übereinstimmte, wann jeder Einzelne den Steilhang erreicht hatte. Elisabeth Martinsson als Erste, dicht gefolgt von Germund Grooth. Dass Rickard Berglund kurz vor Tomas Winckler ankam, obwohl er einen etwas längeren Weg zurückzulegen hatte, musste natürlich nichts bedeuten. Eine Schlussfolgerung, zu der auch Inspektor Sandlin in seinen Kommentaren gekommen war.
Aber die große Frage – wenn es denn überhaupt eine große Frage in diesem Mischmasch gibt, dachte Eva Backman resigniert –, die große Frage war, ob einer von ihnen seine Position falsch eingetragen hatte. Sein Kreuz hundert oder zweihundert Meter von Maria entfernt gemacht hatte, während er oder sie sich doch dicht bei ihr oben am Hang befunden hatte.
Dann das Opfer hinuntergestoßen hatte, sich sicherheitshalber hinter irgendwelche Büsche oder wo auch immer hingehockt hatte, um sich anschließend den übrigen geschockten Pilzsammlern anzuschließen, wenn es an der Zeit war.
Übrigens: Pilzsammler? Eva Backman war auf keine einzige Information dahingehend gestoßen, dass einer von ihnen auch nur einen einzigen Pfifferling gefunden hatte. Aber im Lichte dessen, was passiert war, war das vielleicht auch keine wirklich wichtige Frage.
Sie seufzte, trank einen Schluck Tee und las Sandlins Kommentare durch. Bald musste sie einsehen, dass er die gleichen Schlüsse gezogen hatte wie sie. Oder zu den gleichen Fragezeichen gekommen war. Da jeder Beteiligte seinen Standpunkt auf einer leeren Karte hatte eintragen müssen und er nicht wusste, wo die anderen ihre Kreuze gemacht hatten, musste es für den Mörder ein gewisses Risiko beinhalten, wenn er bluffte. Auch wenn die Sicht im Wald schlecht war, so gab es dort doch nicht allzu viel Unterholz, und auf gut Glück ein Kreuz zu malen, das nicht allzu nahe an einem der anderen fünf lag – deren Position man ja nicht kannte –, ja, das musste zweifellos ziemlich gewagt sein.
Andererseits war es nicht unmöglich, das hinzukriegen. Und das erst recht nicht, wenn man die Möglichkeit gehabt hatte, zu beobachten, aus welchen unterschiedlichen Richtungen die anderen herbeigeeilt waren, nachdem sie Maria Wincklers Ruf gehört hatten. Wenn man hinter dichten Tannenzweigen verborgen saß.
Keineswegs unmöglich.
Hatte Inspektor Sandlin festgestellt.
Stellte Inspektorin Backman fünfunddreißig Jahre später fest.
Sie seufzte, trank noch einen Schluck Tee und dachte eine Weile an das Sahlgrenska Krankenhaus.
Anschließend widmete sie sich eine halbe Stunde den Dingen, die am heutigen Tag ans Licht gekommen waren.
Tomas Wincklers Aussage beispielsweise. Sie legte das Band ein und hörte einige Minuten zu, sah dann jedoch ein, dass ein erneutes Abhören nicht nötig war, da sie alles noch frisch im Gedächtnis hatte. Stellte das Gerät ab und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, die Füße auf dem Schreibtisch.
Was hatte er eigentlich gesagt?
Dass er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hatte
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