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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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dem Fenster.
    Das Wetter sah gar nicht so schlecht aus. Der Regen war abgezogen, und es gab Risse in der Wolkendecke.
    Er faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch. Eine
Autofahrt?, dachte er. Eine Autofahrt hinaus nach Rödåkra-
Rönninge? Plötzlich fühlte er sich ungemein motiviert. Es konnte doch nie schaden, zum Tatort zurückzukehren. Ganz im Gegenteil, das war die klassischste aller Methoden.
    Vorsichtig schlich er an Eva Backmans Tür vorbei, ohne den Kopf hineinzustecken und ihr zu berichten, was er vorhatte. Was war das, was sie gesagt hatte?
    Eine verborgene Geschichte?

59
    A ls Rickard Berglund versuchte, auf das Jahr 1974 zurückzuschauen – in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, als klar war, dass sie aus Uppsala wegziehen würden –, schien es ihm ein Jahr gewesen zu sein, das sich irgendwie unter der Wucht der Ereignisse gekrümmt hatte.
    Gleichzeitig dachte er, dass das ein Zeichen dafür war, dass ihr Entschluss der richtige gewesen war. Allein die Vielzahl der Ereignisse wies darauf hin, dass es an der Zeit war, die Universitätsstadt zu verlassen und sich hinaus in die Wirklichkeit zu begeben. Weder er noch Anna spürten auch nur den Ansatz
eines Zögerns, was diesen Schritt betraf, das hatten sie sich sofort gegenseitig versichert, nachdem sie den Brief gelesen
hatten – den Brief, in dem stand, dass er die Stelle bekam, um die er sich beworben hatte, und dass er sie am ersten Februar antreten konnte.
    Er hatte seinen theol. cand. im Juni gemacht, aber davor hatte bereits ein größeres Ereignis stattgefunden: der Tod seiner Mutter. Er war Anfang April wie ein Blitz aus heiterem Himmel eingetreten. Oder eigentlich wie zwei Blitze: ein Schlaganfall, der am Abend des achten eintrat, und ein zweiter, nachdem sie ins Krankenhaus in Mariestad gekommen war, frühmorgens am neunten.
    Ethel Berglund wurde am 18. April auf dem Friedhof der Kirche von Hova beigesetzt, hätte sie noch acht Monate gewartet, dann hätte er selbst die Zeremonie ausrichten können. Der erste Schlaganfall geschah an einem Montag, der zweite, der ihr Leben beendete, an einem Dienstag. Er konnte nicht anders, er musste es registrieren.
    Auch wenn er seiner Mutter nie sehr nahegestanden hatte, so legte ihr Tod eine Art retroaktiven Dämpfer auf seine Priesterweihe im Dom von Uppsala im Advent. Er fühlte, er hätte gewünscht, sie wäre dabei gewesen. Und sein Vater, der Pfarrer der freien Kirche, auch, aber es lag ein gewisser Trost darin, dass sie jetzt beide vereint waren und dass sie die Weihe des Sohnes von ihrem gemeinschaftlichen Wolkenkissen da oben betrachten konnten. Sicher hatte keiner von beiden etwas gegen diese Perspektive.
    Ende Mai war das Haus in Hova verkauft, und Anna und er gönnten sich einen vier Wochen langen Urlaub in der griechischen Inselwelt. Sie fuhren mit verschiedenen Booten zwischen den Inseln der Kykladen herum, eine schöner als die andere in dem strahlend blauen Meer, und sie versicherten einander, halb im Scherz, halb im Ernst, dass es Gott war, der das Schiff erfunden hatte, der Bus dagegen Teufelswerk war.
    Wie Rickards Mutter war auch das Unternehmen »Qualitätsreisen« nur noch eine Erinnerung. Tomas hatte den Bus verkauft, und sie hatten die spärlichen Einkünfte verteilt, bevor der Konkurs im Februar ein Faktum war. Wenn er es überlegte, war es das einzige Mal, dass sie alle sechs wieder versammelt gewesen waren. Und nachdem Tomas und Gunilla im August nach Göteborg gezogen waren, war auch die Sibyllegatan Geschichte geworden. Ja, 1974 war unweigerlich ein Jahr des Aufbruchs gewesen.
    Zur Vorbereitung auf die Ordination hatte er in verschiedenen Gemeinden außerhalb von Uppsala gepredigt. Vittinge, Almunge und Knutby, und auch wenn er nicht mehr als insgesamt vier Predigten gehalten hatte, konnte er schon spüren, was die liturgische Bürde beinhaltete. Was für ein Gefühl es war, auf der Kanzel zu stehen mit einer erwartungsvollen Gemeinde unter sich. Beim ersten Mal, in der schönen Kirche von Vittinge, war er so nervös, dass er es fast nicht die Stufen hinauf geschafft hätte.
    Aber es war ein guter Lehrherbst gewesen, er hatte kluge, freundliche Kirchenhirten mit der Erfahrung vieler Jahre im Felde kennengelernt, und jetzt, da er im Begriff stand, die Gemeinde von Rödåkra-Hemleby tief in Westschweden zu übernehmen, hatte er trotz allem das Gefühl, bereit für diese Aufgabe zu sein. Zwar unerfahren und mit fehlenden Kenntnissen, aber dennoch bereit.
    Anna

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