Einsamen
so zerbrechlich«, sagte er. »Es ist so zerbrechlich, dass … dass man es fast nicht in die Hand nehmen mag.«
Sie nickte, sagte jedoch nichts.
»Ich meine, wie soll man denn leben, wenn alles innerhalb von Sekunden zu Ende sein kann? Sicher, ich habe schon früher darüber nachgedacht, ich habe viele tote Menschen gesehen, aber am Montag, da wurde alles so glasklar. Verstehst du, was ich meine?«
»Hast du immer noch Angst?«
Er dachte nach. »Ich weiß es nicht. Ich fühle mich abgestumpft. Berngren meint, dass ich an einem verzögerten Schock leide, der kann sich offenbar so zeigen. Aber verdammt noch mal, es geht ja hier nicht um mich. Es geht um dich, und es geht um unsere Kinder. Wenn du mir nur versprichst, dass wir noch ein paar Jahre zusammenleben … nein, ich meine viele … viele Jahre, dann beruhigt mich das.«
Marianne betrachtete ihn ein paar Sekunden lang wortlos. Er konnte sehen, dass ihr etwas einfiel.
»Es gibt ein Gedicht von Philip Larkin«, sagte sie. »Unser Englischlehrer auf dem Gymnasium hat es uns mal als Kopie verteilt. Er litt an einer unheilbaren Krankheit.«
»Ja?«, sagte Barbarotti.
»Ein halbes Jahr später ist er gestorben, wir hatten das letzte Jahr eine Vertretung. Ja, das sind ein paar Zeilen, die ich nie vergessen werde.«
Sie trank von ihrem Wasser. Barbarotti wartete, konnte sehen, dass sie es erst für sich repetierte, um sicher zu sein, dass kein Wort verloren gegangen war.
»Also. Es handelt vom Tod, wenn er kommt. And so it stays just on the edge of vision/A small, unfocused blur, A standing chill/That slows each impulse down to indecision/Most things may never happen: this one will.«
»Du weißt es noch wörtlich?«, fragte Barbarotti.
»Es heißt Aubade «, erklärte Marianne. »Wir haben es auswendig gelernt. Zumindest die Mädchen. Wenn du verstehst?«
»Ich denke schon«, sagte Barbarotti.
»Es gibt keine Garantie«, sagte Marianne. »Aber diese Krise, die werde ich überstehen, das fühle ich.«
»Gut«, sagte Barbarotti.
»Aber es kommt nicht auf die Anzahl der Jahre an. Es kommt auf die Anzahl der Stunden und der Tage an, die wir noch haben. Oder? Man kann hundert Jahre lang ein sinnloses Leben leben, wozu sollte das gut sein?«
»Sicher«, stimmte Barbarotti zu. »Aber zumindest müssen die Kinder erst älter werden.«
»Du musst Zuversicht haben«, sagte Marianne.
Er beugte sich übers Bett und küsste sie. Ließ sich dann wieder auf seinen Stuhl sinken.
»Ich habe ein paar Mal mit einem Pfarrer gesprochen, der sein Amt niedergelegt hat«, berichtete er ihr. »Seine Frau ist am selben Tag gestorben, an dem du die Gehirnblutung
hattest.«
»Geht es um diesen Fall? Den mit Germund Grooth?«
»Ja.«
»Ich glaube, Eva kommt mich morgen deshalb besuchen, oder?«
»Das stimmt«, sagte Barbarotti. »Sie kommt morgen Nachmittag. Aber dieser Pfarrer, der hat jedenfalls am Krankenbett seiner Frau gesessen … na, mindestens mehrere Monate lang. Vielleicht sogar jahrelang, ich weiß es nicht genau. Und jetzt ist sie fort. Sie haben keine Kinder und keine näheren Angehörigen, jedenfalls scheint es so. Das muss ein Gefühl sein … ja, ich weiß gar nicht, was für ein Gefühl das sein muss.«
»Und das macht dir Angst?«
»Ja«, bestätigte Barbarotti. »Das macht mir Angst. Most things may never happen, this one will … waren das nicht deine Worte?«
Marianne nickte und trank einen Schluck Wasser. »Das Leben und der Tod sind Geschwister«, sagte sie. »Wie sagt man … siamesische Zwillinge sogar. Wenn wir vor dem einen Angst haben, dann haben wir auch vor dem anderen Angst. Verstehst du, was ich meine?«
Gunnar Barbarotti dachte nach und bestätigte, dass er das tat. Aber er wusste nicht, ob Verstand und Worte etwas wogen, vielleicht waren sie nur Luft. Marianne ergriff erneut seine Hände. »Das schaffen wir schon«, sagte sie. »Geh du jetzt nach Hause und spiel mit den Kindern Karten. Ich glaube, ich werde eine Weile die Augen zumachen.«
Er blieb noch zehn Minuten sitzen. Die Gedanken flatterten wie Schmetterlinge in seinem Kopf herum. Just on the edge of vision. A small, unfocused blur? Als er sicher war, dass sie wirklich tief schlief, ging er zur Stationsschwester und fragte, wie er zum Hospiz käme.
Dort war es gemütlicher, und er nahm an, das war auch die Absicht. Ins Hospiz kamen die Patienten, um zu sterben. Und die Angehörigen, um in Würde Abschied zu nehmen. Hier gab es weiche Sessel, und an den Wänden hingen Bilder. Es
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